Wartende vor einem Krematorium in Peking. Weil keine genauen Zahlen zum Coronavirus veröffentlicht werden, zählen Studenten nun Todesfälle unter ihren Professoren, um einen Eindruck vom Ausmaß der Epidemie zu bekommen.

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Um sich ein Bild von der aktuellen Covid-Situation in China zu machen, haben Studenten der Tsinghua-Universität in Peking auf eine aparte Methode zurückgegriffen: Sie zählten die Todesfälle der vergangenen Tage unter ihren Professoren. Von den 1.831 Lehrkräften sind 16 kürzlich verstorben. Andere zählen die Todesanzeigen von Unternehmen und Berühmtheiten. Ob sie an oder mit Covid oder an etwas völlig anderem gestorben sind, weiß man nicht. Die Regierung veröffentlicht keine Todes- und Infektionszahlen mehr. Und so stochern Millionen Chinesen derzeit im Dunkeln, während gleichzeitig Arztpraxen und Krankenhäuser überfüllt sind. Selbst fiebersenkendes Ibuprofen sei derzeit schwer zu bekommen, heißt es.

Zu schnell, zu abrupt, zu unvorbereitet – das ist die Einschätzung der meisten China-Beobachter und -Kenner über die chinesische 180-Grad-Wende in der Corona-Politik. Nachdem man drei Jahre lang auf eine rigorose Eindämmung der Infektionen gesetzt hat, soll nun alles geöffnet werden. Die PCR-Tests wurden weitgehend abgeschafft. Vergangene Woche fiel auch eine der letzten Bastionen des Corona-Regimes: die Quarantänepflicht für Einreisende.

Traditionelle Methoden statt mRNA

Fast drei Jahre lang setzte Peking eine strikte Zero-Covid-Politik um. Die wenigen Einreisenden mussten unzählige PCR-Tests und eine mindestens zwei Wochen dauernde strikte Hotelquarantäne über sich ergehen lassen. Tauchten im Land trotzdem Infektionen auf, wurden ganze Millionenstädte lahmgelegt. Traumatisch war für viele der 26 Millionen Einwohner Schanghais der Lockdown im vergangenen Frühjahr, der drei Monate dauerte.

Aus der Perspektive Pekings aber war die Politik ein Erfolg: Die Fallzahlen wurden auf ein Minimum gedrückt, während im Ausland das Virus wütete. Nur, fragten sich viele, wie würde die Exit-Strategie aussehen? Im Gegensatz zur westlichen Welt hat Peking nicht auf die noch recht neuen mRNA-Impfstoffe gesetzt. Dafür sollen jetzt die umstrittene traditionelle chinesische Medizin (TCM) und fiebersenkende Medikamente die Covid-Erkrankungen heilen.

Politisiertes Virus

Das Coronavirus beziehungsweise der Umgang damit war in China immer auch ein politisches Instrument: Als Peking das Land in den ersten Pandemiejahren vom Rest der Welt abschirmte, zeichnete die Propagandapresse ein düsteres Bild des Auslands. Millionen würden wegen der laschen Sicherheitsvorkehrungen in Europa und den USA sterben. Bis heute sind Sinn und Effizienz des chinesischen Exportguts Lockdown nicht geklärt. Nur an der Politisierung des Virus hat sich nichts geändert: Jetzt behauptet die staatliche Presse, westliche Medien würden die Todeszahlen dramatisieren.

Auch im Inland vollzieht der Propagandaapparat eine Kehrtwende: Nach Jahren der Angstmache gilt jetzt das Gegenteil. Die neue Variante XBB 1.5, die sich derzeit vor allem im Nordosten der USA ausbreitet, sei zwar hochansteckend, aber kaum gefährlich, heißt es. Auch Re-Infektionen kämen so gut wie nicht vor, wird mitgeteilt – was den Meldungen aus den USA zuwiderläuft.

Die Weltgesundheitsorganisation forderte von China jetzt genauere Daten über die Hospitalisierungsraten, und die EU will Einreisende aus China wieder nur ins Land lassen, wenn sie sich vor Abreise verpflichtend auf das Virus testen. Viele dürften es ohnehin nicht sein: Noch immer gibt es kaum Flüge, und die wenigen Tickets kosten mehrere tausend Euro. (Philipp Mattheis, 5.1.2023)