Im Gastblog blicken Gerald Simon und Claus Farnberger auf die letzten Ereignisse innerhalb der Fußballwelt zurück.

Viele Wochen lang hatten wir intensive Gewissenserforschung betrieben, in unser Faninneres gehorcht und uns schon den einen oder anderen guten Vorsatz für das Fußballjahr 2023 entsteißt:

  • Wir wollen nicht mehr so böse mit unseren adorationswürdigen Kickern und Kickerinnen sowie Trainern und Trainerinnen umgehen. Wir wollen, so wie im Umgang mit allen anderen Mitmenschen, auch in ihnen das Gute sehen.
  • Selbst das oft geist- und substanzlose Geplapper der ORF-Moderatoren (ungegendert!) wollen wir künftig als harmlosen Bestandteil in das "Gesamtkunstwerk TV-Fußballübertragung" eingewebt wissen.
  • Wir wollen mithelfen, dass der moderne Fußball und Fußballfan noch ein Stück weiblicher wird.
  • Erneut wollen wir zur Reproletarisierung des Fußballsports aufrufen.
  • Wir wollen die VIP-Eingänge aller Stadien dieser Welt mit Bratwurstsenf verkleben.
  • Wir wollen dazu aufrufen, dass die Fußballanhängerinnen und Fußballanhänger bei der Auswahl der Austragungsorte großer Turniere mitentscheiden, zumal ja gerade diese ein unverzichtbarer Hauptbestandteil jedes Fußballfestes sind und immer sein werden.

Eine verloren geglaubte Aura bei der WM

Selbst in einem an sich so deprimierenden Umfeld wie der katarischen Menschenrechtswüste brach sich Ende des verwichenen Jahres schon nach wenigen WM-Tagen zumindest ansatzweise der Fanenthusiasmus Bahn. Es ist wohl kein großer Zufall, dass just das in den Stadien am kräftigsten unterstützte Team auch den Weltmeistertitel holte. Nur in jenen Augenblicken, in welchen die Bilder der tausenden blau-weiß gestreiften argentinischen Fußballfans in die argwöhnischen Fancommunitys der extrakatarischen Welt transportiert wurden, vermeinte man jene fußballerische Aura der Faszination zu verspüren, die man sich ja eigentlich von vornherein zu verbitten gewillt gewesen war. Dem hollywoodkonformen Happy End der "Gauchos", inklusive der im Stile einer Ovid'schen Metamorphose gestalteten Krönung und fußballerischen Vollendung des Leo Messi, konnte sich dann – trotz widrigster Begleitumstände – eigentlich niemand mehr entziehen.

Lionel Messi, auch Spieler des Turniers, tat mit diesem Weltmeistertitel endgültig den letzten Schritt aufs oberste Podiumsstockerl der Allergrößten, direkt an die Seite seines 2020 verstorbenen argentinischen Arbeitskollegen Diego Armando Maradona.

Pelé: Fan-Ikone der Fußballgeschichte

Noch einen Schritt weiter machte nur wenige Tage später der wohl noch Allergrößere: Am 29. Dezember 2022 verstarb Edson Arantes do Nascimento, der ganzen Fußballwelt als "Pelé" bekannt. Während dieser Name jüngeren Generationen vielleicht nicht mehr allzu viel sagen könnte, gibt es wohl keinen einzigen über 50-jährigen Menschen auf diesem Erdball, der "Pelé" nicht mindestens jene Stellung im Weltfußball zugestanden hätte, die etwa einem Mozart in der klassischen Musik gebührt. Er machte Fußball zum Weltereignis und wurde durch seine weltweite Popularität wohl auch zur ersten und größten Fan-Ikone der Fußballgeschichte.

Mit Edson Arantes do Nascimento, "Pelé" genannt, starb eine Legende des Fußballs.
Foto: tschuttiheft.li/Liam Tanzen

Jahrzehnte vor dem Zeitalter der Globalisierung, wo noch nicht jede Muskelzuckung jedes Nachwuchskickers und jeder Nachwuchskickerin via Social Media in alle Erdteile verstreut wurde, tauchten nur alle paar Jahre Szenen großer Karrieremomente des dreifachen Weltmeisters vom FC Santos in den heimischen Medien auf. Obwohl das Trikotgelb des Ausnahmekönners durch die noch dominante Schwarz-Weiß-TV-Technologie zumeist auf ein verwaschenes Hellgrau reduziert wurde, gehören diese sparsam ausgestrahlten Bilder wohl bis heute zum Atemberaubendsten, was in der Welt des Sports je dokumentiert wurde. Wie mag es den vielen tausenden Fußballfans ergangen sein, die Pelé einst live im Maracanã-Stadion oder bei seinem letzten WM-Finale 1970 im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt erleben konnten?!

Die Totenwache fand im Stadion des FC Santos statt.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire/Paulo Lopes

Noch Jahrzehnte nach seiner Karriere, eigentlich bis zu seinem Tode, galt Pelé als oberste Instanz im brasilianischen Fußball. Hochtalentierten späteren Stars der Seleção wie etwa dem berühmten "Zico" schmeichelte man mit journalistischen Adelsprädikaten wie "der weiße Pelé". Jeder Einzelne der Romarios, Ronaldos, Neymars, und wie sie alle hießen und heißen, musste sich in jeder Phase seiner Laufbahn mit dem Mythos Pelé arrangieren. Edson Arantes do Nascimento, dem im Laufe seiner Jahre über 1.300 Pflichtspieltore gelangen, der zum Sportler des 20. Jahrhunderts gewählt wurde und dem als späterem Sportminister auch der Breitensport und die körperliche Fitness der Bevölkerung stets ein Anliegen waren, litt eigentlich nie an Selbstunterschätzung. Manchmal zeigte er aber auch seine besinnliche Seite, wie in folgendem von hunderten Zitaten, die ihm zugeschrieben werden: "Ich bete jeden Tag! Aber ich habe Gott nie um einen Sieg gebeten. Ich dachte mir, das machen alle, und ich würde ihn damit nur langweilen." (Gerald Simon, Claus Farnberger, 10.1.2023)