Massive Überstunden, zu wenige Betten, Triage: Das Gesundheitspersonal in den Spitälern ist ausgebrannt.

Foto: Patricia Kühfuss/laif

Aktuell spitze sich die Lage in vielen österreichischen Spitälern zu, vor allem in den Ambulanzen stünden Ärzteschaft und Pflegende vor einer Mehrfachchallenge. So lautet der Befund der vom Standard befragten Gesundheitsfachleute.

Es sei ein Mix aus akuten und chronischen Herausforderungen, der zu einer enormen Belastung führe, sagen der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka, die Gesundheitsökonomin Maria Hofmarcher-Holzhacker sowie die Sprecherin der Patientenombudsleute, Michaela Wlattnig. Da sei zum einen die anhaltend hohe Grippe- und Atemwegsinfektionswelle, die auf die Folgen der nach wie vor nicht ausgestandenen Coronavirus-Pandemie treffe. Mediziner und Pflegekräfte seien extrem ausgelaugt. Dazu kämen organisatorische Defizite, die seit Jahrzehnten mitgeschleppt würden.

Laut Czypionka handelt es sich um eine Diskrepanz zwischen Nachfrage und Angebot: "Die Nachfrage nach Behandlung ist stark erhöht, auch weil politisch nichts unternommen wird, um die akute Infektionswelle zu dämpfen – etwa durch ernstzunehmendes Propagieren des Maskentragens. Gleichzeitig krankt es am Angebot wegen struktureller Probleme", sagt er.

Woran es krankt

Vor allem in den Ambulanzen, wo akut Erkrankte und Patienten aufeinandertreffen, die zu einem Teil auch im niedergelassenen Bereich behandelt werden könnten, führe das zu Verwerfungen, sagt Wlattnig. Zurzeit kämen dort infektionsbedingt besonders viele akute Fälle herein, gleichzeitig sei das Personal wegen zahlreicher Krankenstände ausgedünnt. "Also werden Kolleginnen und Kollegen aus anderen Spitalsabteilungen herangezogen, was zu Bettensperren und Verschiebung von geplanten Operationen und Behandlungen führt."

"Ich mache mir inzwischen wirklich Sorgen, wie wir diese Operationen nachholen sollen. Viele Patientinnen und Patienten wurden seit Pandemiebeginn bereits mehrmals vertröstet", sagt Wlattnig. Dieses Löcherstopfen läuft seit inzwischen bald drei Jahren. Es belastet die in den Spitälern Arbeitenden umso mehr, als dort, wie im Gesundheitswesen insgesamt, derzeit ein Generationenwechsel stattfindet. Die alte Garde von Medizinern und Pflegenden, die zum Teil bis zum Umfallen arbeiteten – und, was die Ärzteschaft betrifft, damit auch großes Geld verdienten -, weicht Fachkräften mit einem gesünderen Work-Life-Balance-Konzept.

Veraltete Berufsbilder

Diese treffen vielfach auf Dienstpläne, die – etwa im Pflegebereich – Zwölfstunden- statt täglich drei Schichten vorsehen. Derlei fuße auf veralteten Berufsbildern, sagt Hofmarcher-Holzhacker: "Was die Pflege angeht, etwa auf der Vorstellung, dass Personalnachschub immer gesichert ist und dass Pflegepersonen nach 15 Jahren erschöpft den Dienst quittieren und sich vom Beruf abwenden oder nicht mehr einsteigen." Stattdessen brauche es heute dringend andere Dienstmodelle, um Gesundheitspersonal langfristig im Job zu halten.

"Was die letzten 30 Jahre funktioniert hat, funktioniert jetzt nicht mehr", sagt auch Gesundheitsökonom Czypionka. Er spricht von einer strukturell bedingten Überlastung der Krankenhäuser in Österreich. Tatsächlich werden die Spitäler von den Ländern finanziert. Sollen, wie es international empfohlen wird, Aufgaben aus dem Spital ausgelagert werden – etwa um integrierte Behandlungszentren für chronisch kranke Menschen zu schaffen -, müssen die Sozialversicherungen zahlen.

Das, so Czypionka, bremse notwendige Neuerungen im österreichischen Gesundheitswesen sehr. Um das zu ändern, brauche es eine Neuaufstellung des Systems. Auf dem Weg dorthin sei finanzielle Transparenz von Vorteil, fügt Hofmarcher-Holzhacker hinzu: "Nach wie vor werden Protokolle und Vereinbarungen im Rahmen der für die Krankenhausfinanzierung zentralen Finanzausgleichsverhandlungen nicht öffentlich gemacht", kritisiert sie.

"Die Patientenbetreuung leidet"

Anna*, Assistenz- und Notärztin in Vorarlberg

"Ich melde mich ungern krank. Wirklich nur, wenn es gar nicht mehr geht, wie vor Weihnachten. Abends hatte ich nach einem Arbeitstag richtig Bauchschmerzen – und zwar nicht, weil ich derzeit schwanger bin, sondern weil der Dienst so enorm anstrengend war.

Ich habe meine Schwangerschaft erst spät offiziell gemeldet. Ich dachte, es fehlt eh an allen Ecken und Enden, und ich bin vergleichsweise fit, also mache ich, solange es geht, weiter. Man hätte mich bei der Dienstplanung ein bisschen schonen können, dann hätte ich noch weiterarbeiten können. Aber ohne offizielle Meldung hast du wenig Schutz. Letzte Woche habe ich es im fünften Monat offiziell gemacht, die Dienste gingen einfach nicht mehr.

Wir Assistenzärztinnen müssen immer mehr Aufgaben übernehmen. Es fehlt überall an Personal, vor allem in der Pflege. Eigentlich müsste pro Tag und Station eine Ärztin verantwortlich sein. In letzter Zeit hatte ich oft zwei Stationen gleichzeitig und mehrere Zusatzaufgaben. Das alles führt dazu, dass man sich immer schlechter um die Patienten kümmern kann. Man kann das eigentlich nicht verantworten, aber was soll man tun? Man schafft halt nicht mehr. Das geht auf Kosten der Gesundheit der Patientinnen und Patienten, aber auch auf meine. Ich bin nach einem 25-Stunden-Dienst komplett fertig.

Während Corona wurden Stationen gesperrt und Operationen abgesagt. Täglich kommen Leute, deren Operation schon dreimal verschoben wurde. Vor Corona gab es in unserem Haus vier Unfallstationen. Bis vor kurzem waren nur zwei davon voll geöffnet, eine dritte mit einem Bruchteil der eigentlich vorhandenen Betten. An Corona kann das jetzt nicht mehr liegen.

Ich verbringe sehr viel Zeit damit, Betten zu suchen. Zu Weihnachten, in meinem schwangerschaftsbedingt vorerst letzten Dienst als Notärztin, gab es einen schweren Verkehrsunfall. Wir konnten aufgrund des Bettenmangels nur einen der Schwerverletzten ins nächstgelegene Krankenhaus bringen, die andere schwerverletzte Person musste nach Deutschland geflogen werden. Es gab keinen Platz.

Dazu kommt, dass die Hausärzte völlig überfordert zu sein scheinen. Wenn wir Patientinnen nach einer Operation zur Wundkontrolle oder zum Entfernen der Nähte zum Hausarzt schicken, kommen alle wieder zurück ins Spital. Eine Patientin erzählte unlängst, dass sie bei keinem Arzt telefonisch durchkam, es war bei allen ständig besetzt. Das ist ein eklatantes Versorgungsproblem – und man wusste, dass das kommen würde."

Ärztinnen und Pfleger schlagen Alarm: Die Arbeitsbedingungen in den Spitälern seien teils katastrophal,
Foto: Patricia Kühfuss/laif
"Die Patienten liegen am Gang"

Nino*, Pfleger in Wien

"Patientinnen und Patienten, die auf dem Gang schlafen müssen: Öffentlich wird das als Ausnahme dargestellt. Aber das ist längst Alltag. Gleichzeitig ist der Personalmangel so groß, dass immer mehr Betten gesperrt werden müssen. Ein Drittel der Unfallstation der Klinik Ottakring ist weg.

Dauernd spricht man von irgendwelchen Wellen. Aber es ist eine dauerhafte Notlage! Und es gibt keinen Fahrplan, um das Grundproblem anzugehen: den Personalmangel.

50 Stunden Arbeit in der Woche ist bei uns die normale Tagesordnung. Teils ist es noch schlimmer, es gibt Abteilungen, die haben zusammen mehr als 1000 Überstunden angesammelt. Alle sind am körperlichen Limit. Der Puffer an Personal, den es vor der Pandemie gegeben hat, der ist jetzt endgültig weg. Es gibt Leute, die reden davon, lieber Supermarktkassierer zu werden, als im Spital zu bleiben.

Die meisten halten es nicht lange in dem Beruf aus. Teilweise gibt es Massenkündigungen, neun, zehn Leute auf einen Schlag. Sie finden nicht einmal mehr Leute, die das Personal managen wollen, weil es so eine Knochenaufgabe ist.

Nicht nur in den Spitälern ist keine ordentliche Versorgung möglich: Wir haben immer öfter Ältere aus Pflegeheimen mit unphysiologischen Brüchen. Das ist nur dadurch zu erklären, dass etwa gebrechliche Patienten in den Rollstuhl umgesetzt werden. Weil es zu wenig Personal zur Betreuung gibt, versuchen die alten Menschen allein und aus eigener Kraft daraus aufzustehen – und stürzen.

Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit macht krank. Kapazitäten werden aufrechterhalten, während das Personal an allen Ecken verheizt wird.

Gleichzeitig wird die Situation verschwiegen. Wer sich an die Öffentlichkeit wendet, muss mit Repressionen rechnen. Wer gerechtfertigte Gefährdungsanzeigen schreibt, ist ein Nestbeschmutzer und wird mit Bürokratie eingedeckt. Die Gewerkschaft tut nichts.

Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder man wehrt sich. Oder man geht. Mir reicht es, ich erwäge zu gehen.

Triagen und Betten am Gang gehören längst zum Klinikalltag, berichtet Fachpersonal.
Foto: Patricia Kühfuss/laif

"Wir müssen immer wieder Triagen durchführen"

Markus*, Notfallmediziner in Wien

"Regelmäßig müssen wir Patientinnen und Patienten wegschicken, obwohl die medizinische Leitlinie eine stationäre Behandlung vorschreibt. Es gibt nicht genug Personal, um sie zu betreuen. Betroffene bekommen etwa bei einer aufnahmepflichtigen Lungenentzündung Antibiotika und den Hinweis, wiederzukommen, falls es schlimmer wird.

Patienten in der Notaufnahme müssen stundenlang auf die Abklärung warten. Da kommt es vor, dass sie Situation kippt, bevor überhaupt das erste Gespräch geführt wurde.

Ich kann nur warnen: Eine adäquate Versorgung ist aktuell auch im Notfall nicht gewährleistet. Wir befinden uns nicht kurz vor dem Kollaps, wir sind bereits kollabiert. Vor allem altersschwache Patienten und jene, die eine intensivmedizinische Behandlung brauchen, können nicht ausreichend versorgt werden.

Ich muss mit den Kolleginnen der Intensivstation immer wieder Triageentscheidungen durchführen. Früher hätte ich einen 70- bis 80-jährigen Patienten mit schwerer Lungenentzündung noch auf die Intensivstation transferiert. Nun ist immer öfter kein Bett verfügbar. Wir telefonieren nach, um zu erfahren, dass es einen letzten Platz für die ganze Nacht gibt. Den müssen wir aufsparen, für den Fall, dass womöglich ein 25-Jähriger kommt, dessen Lunge versagt. Also bekommt der alte Patient nur Palliativmedizin. So erhöhen wir kontinuierlich die Schwelle. Die Älteren kommen zu kurz.

Mich erschreckt selbst, wie ich mittlerweile mit Patienten kommuniziere, wie leichtfertig ich hinnehme, wenn jemand intensivmedizinischer Behandlung kritisch gegenübersteht. Früher hätte ich versucht, die Menschen zu überzeugen. Mittlerweile dokumentiere ich "Patient lehnt intensivmedizinische Maßnahmen ab" und bin erleichtert, mich nicht mit dem Dilemma der Entscheidung beschäftigen zu müssen.

Vor allem für jüngere Kolleginnen und Kollegen, die sich noch nicht ausreichend distanzieren können, die Systemfehler als eigenes Versagen interpretieren, ist all das enorm belastend. Sie erzählen, dass sie nur noch mit Bauchweh arbeiten können, dass sie aufgrund der Belastung mit Therapie und Einnahme von Antidepressiva begonnen haben.

Was mich ärgert, ist, dass all das nicht klar kommuniziert wird. Wir bekommen zunehmend Anfeindungen, warum wir einzelne Patienten nicht stationär aufnehmen können, obwohl sie Luftnot verspüren. Gleichzeitig sagt ein Gesundheitsstadtrat im Fernsehen, die Versorgung sei gewährleistet. Nein, das stimmt nicht! Mein Arbeitgeber hat die Verantwortung, dies klar zu kommunizieren. Dann muss ich die Erwartungen meiner Patienten nicht permanent enttäuschen." (Muzayen Al-Youssef, Irene Brickner, Magdalena Pötsch)

*Name auf Wunsch geändert