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"Du bist ihnen zu eng geworden. Deine Welt hört an der Wohnungstür auf. Manchen nimmst du das wirklich übel, andere lässt du ziehen": Julya Rabinowich.

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Du merkst: Es geschieht etwas. Nicht politisch. Nicht weltweit, nicht europaweit, nicht innenpolitisch. Es geschieht etwas, du spürst es, kannst es aber nicht benennen, allein die Ahnung dieses Geschehens jagt dir kalten Schweiß über den Rücken. Es geschieht nicht in einem Land, in einer Stadt, in einem Bezirk. Es geschieht in dir. Es geschieht vielleicht so behutsam, dass du nicht weißt, wann es begonnen hat zu geschehen. Aber du wirst wissen, wann es so lange geschehen ist, dass man es finden kann. Auf Röntgenbildern. Im Blut. Im hämmernden Rhythmus bildgebender Maschinen. In dem Wasserspiegel deiner Augen, zwei kleine Weltmeere.

Vielleicht willst du jetzt kämpfen. Du musst die Langsamkeit aber erst erlernen. Die Wartezeiten sind lang. Das medizinische Personal ist so erschöpft wie du. Manche Spitäler können dich nicht annehmen. Du hast Berichte darüber gehört. Dir sogar Hashtags gemerkt, #MedizinBrennt und #Pflegenotstand. Jetzt betrifft es dich. Wartezeit kann über Lebenszeit entscheiden. Ganz konkret. Das, was geschieht, ist also doch politisch. Wie alles Private. Für Privatversorgung fehlt zu vielen das Geld.

Du hast Artikel darüber geschrieben. Früher.

Du hast immer gerne gekämpft. Aber dein Kampf hat nun etwas Weltläufiges eingebüßt. Besser gesagt: Deine Welt schrumpft um dich herum, läuft ein wie ein Wollkleid, das man zu heiß gewaschen hat, wird puppenhaft, zwingt dich zur Verpuppung. Während deine Welt schrumpft, beginnst du zu begreifen, wie es Alice im Wunderland erging, als ihre Welt plötzlich der ihr bekannten Gesetzmäßigkeiten verlustig ging.

Andere würde vielleicht Zerfall dazu sagen, aber du empfindest es nicht so, denn es zerbricht nichts. Es ist nur viel weniger Raum für alles außerhalb deines Krankenzimmers, außerhalb deines Körpers. Weniger Bewegung, weniger Lust, weniger Verbundenheit, weniger Zeit. Genau genommen wird die Zeit nicht weniger, sie wird zäher. Die Tage fließen ineinander, die Nähe fließt auseinander, Freunde rücken weg, du machst ihnen Angst.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Und in die Alleen schafft man es auch nicht, um dort unruhig zu wandern. Unruhig wandern können jetzt nur die Gedanken, die ja frei sind und sich nicht an deine inniglichen Bitten halten, sie tragen Leibesfurcht und Angsternte, manchmal karg, manchmal reich. Die Medizin brennt immer noch. Die Gesichter der Ärztinnen und Ärzte, die du triffst, haben oft einen grauen Schleier. Sie weisen dich nicht ab. Es gibt viele Ausfälle. Die Medizin brennt nicht nur, sie brennt aus.

Du wirst launisch, an manchen Tagen bist du auf Angriff gebürstet, an anderen weinerlich, man hat es nicht leicht mit dir, aber du hast es auch nicht leicht mit dir. Freunde werden anrufen und absurde Behandlungsvorschläge machen. Iss kein Fleisch. Iss Fleisch. Kein Zucker. Iss, was dir Freude macht. Chinesische Kräuter! Bloß keine chinesischen Kräuter, sie sind mit Schwermetallen und Schimmelsporen belastet!

Alles wird dir empfohlen werden, von Engelstränen bis zu Schamaninnen und Medizinmännern, Kräuterkissen, Bergkristallen aus Fensterglas, Scharlatanen und honorigen Ärzten. Ihre Namen schwirren in deinem Kopf statt Zukunftsplänen. Während deine Welt mit dir im Bett liegt, entschweben Freunde in für dich unerreichbare Sphären, Städtereisen und Arbeitswelten, Affären und Theatervorstellungen.

Du bist ihnen zu eng geworden. Deine Welt hört an der Wohnungstür auf, manchmal an der Schlafzimmertür. Manchen nimmst du das wirklich übel, andere lässt du ziehen. Du lässt so vieles ziehen. Manchmal fühlt dieses Ziehenlassen sich an wie ein unmerkliches Ausrinnen. War es das? Diese Frage verkneifst du dir, sie sucht dich manchmal in der Dunkelheit heim. Wie wird es sein – so dunkel wie jetzt, nur dass kein Lichtschalter mehr umzulegen ist?

Du schlägst nach solchen Fragen, du schlägst um dich, du wirfst deine Medizinfläschchen um, die rund um dein Bett aufgestellt sind, tapfere kleine Zinnsoldaten. Drinnen ist es dunkel, draußen brennt die Medizin lichterloh weiter. Eines Tages bedauerst du, keine aktuellen Artikel darüber schreiben zu können.

Über dieses Bedauern freust du dich sehr spontan. Die Schreiblust verspricht Besserung. Konkret: deine. Die Medizin brennt ja noch immer, und es sieht nicht danach aus, dass da etwas besser wird. Kleinkinder werden in Kliniken nicht aufgenommen. Triage bei Kleinkindern, das ist wahre Brutalität. Hätte man je gedacht, dass es in Europa so weit kommt?

Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Sie ist als Schriftstellerin, Kolumnistin und Malerin sowie als Dolmetscherin tätig. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Dazwischen: Wir" (Hanser, 2022).
Foto: Heribert Corn

Du stellst dir Fragen, die Fragen sind düster, aber sie betreffen nicht dich. Du empfindest erneut eine absurde Freude darüber, dass du dich überhaupt etwas fragst. Oder die Welt. Oder die Politik. Du möchtest wieder etwas ändern. Etwas hinausschreien. Das ist gut. Andere können es nicht. Das ist nicht gut. Auf Twitter schildern Pflegepersonal und Ärzteschaft eindringlich, was es heißt, Patienten und Patientinnen nicht mehr versorgen zu können. Es ändert sich: eigentlich nichts.

Das empört dich. Wer schreien kann, dem kann es nicht so schlecht gehen, haben manche auf der Notaufnahme gesagt. Die nehmen wir später dran. Du willst schreien. Das ist noch besser. Tief in dir gibt es jetzt einen Ort, der das Wissen anzubieten hat, dass es gut wird. Du wirst diesen magischen Bannkreis, der sich um dein Bett gelegt hat, wieder verlassen. Da draußen gibt es noch jemanden, der an dich glaubt. Du spürst es. Du willst diesen Menschen ebenfalls Glauben schenken. Es ist ein Deal.

Du feilschst also Tag um Tag. Die Kompatibilität mit dem Außen muss erkämpft werden. Du weißt, wie es hätte sein können, hättest du in den Krankenhäusern niemanden gekannt. Wärst du jemand ohne Sprache oder ohne Wissen um das medizinische System gewesen. Das Glück ist ein Vogerl. Du hast Glück gehabt.

Irgendwann setzt du den ersten Schritt auf die Straße. Deine Füße tragen Schuhe mit richtiger Sohle. Die Sohle setzt auf Asphalt auf. Die Sonne scheint. Oder es regnet. Das ist egal. Hauptsache, du spürst es. Irgendwann ziehst du weitere Kreise. Die Parkbank unter dem Kastanienbaum. Das kleine Lokal im Bezirk hinter der Brücke, die dir unüberwindbar schien – noch vor Wochen. Die Weinberge außerhalb der Stadt.

Irgendwann stehst du wieder auf der Bühne. In einem anderen Land. Alles ist fast so wie gewohnt und doch völlig neu. Du spürst die Bruchstellen wie gerade erst zusammengewachsene Knochen, die beim Wetterwechsel schmerzen. Und am Bahnhof wird dich einer, den du erst seit kurzem kennst, umarmen und sagen, du sähest aus wie immer. Die Medizin brennt weiter. Du hast Glück gehabt. (Julya Rabinowich, 6.1.2023)