Die Menschen haben gar nichts gegen "ihre" Theater. Sie wollen bloß von der Kulturpolitik ernster genommen werden als bisher.

Foto: Schöndorfer / Toppress

Das Theater hat ein Problem, wahrscheinlich auch die Museen und, wie man immer öfter hört, die Kinos. Die Rede ist einmal mehr vom massiven Rückgang der Besucherzahlen, der nun doch keine Laune einer volatilen Konjunktur ist und sich nach dem Ende der Pandemie verfestigt hat. Es geht um eine dauerhafte Änderung im Publikumsverhalten, die noch so findiges Marketing allein nicht auffangen kann.

Was hört man dazu aus der Sphäre der Kulturpolitik? Zunächst Zweckoptimismus und Zweifel an der Diagnose. Gibt es doch immer wieder Ausreißer nach oben. Mit Humanistää! von Claudia Bauer nach Ernst Jandl am Volkstheater wurde schließlich eine Theaterproduktion aus Wien mit internationalen Festivaleinladungen und Preisen überhäuft.

Im Wiener Musiktheater steht die Wetterlage nach einem vielversprechenden Anfang am Theater an der Wien und freundlichen Aussichten an der Volksoper gar unter Zwischenhocheinfluss. Derzeit kaum betroffen vom Publikumsrückgang sind hypergentrifizierte Betriebe wie die Wiener Staatsoper oder die Salzburger Festspiele mit einem hohen Anteil von internationalem Publikum. Das sollte allerdings nicht zur Annahme verführen, Oper sei allein schon als Form gegen die Publikumserosion immun.

Praxis mit Grenzen

Mit dem Schock der Publikumskrise und der Frage wo und wie neue Formen von Öffentlichkeit herstellbar sind, durchläuft der Kulturbetrieb eine von außen leicht übersehene, für seine Binnenverhältnisse um so bedeutendere Zeitenwende. Es geht damit auch eine Ära in der Kulturpolitik zu Ende. Eine Praxis stößt an ihre Grenzen, die vielleicht nicht gut war, aber erstaunlich lange gut funktionierte.

Nachdem die großen kulturpolitischen Reformen im Eintritt in die 1990er-Jahre zum Erliegen gekommen waren, geriet die Forderung nach einer eingreifenden Kulturpolitik im Sinne eines fortschrittlichen Projekts nur noch zum Steckenpferd von ein paar "incurable romantics". Kultur wurde zum Bummerl jeder Koalitionsverhandlung, etwas das wenig Meriten, aber viel Ärger mit der "Szene" versprach. Das Ende der Geschichte schien auch hier anzubrechen. Kunst als Projekt bürgerlicher Aufklärung hatte sich irgendwie erfüllt. Niemand karrte mehr Pferdemist vors Burgtheater. Freiheit der Kunst war als negative Freiheit gegenüber staatlicher Macht durchgesetzt. Den Rest konnte man den Binnenstrukturen bzw. dem Markt überlassen. Es galt lediglich, die in den Institutionen angesammelte Klugheit maßvoll fortzuschreiben.

Das alles bricht nun auf in Konflikten, die auf der Ebene künstlerischer Programmierung und mit Fortune bei der Bestellung des Leitungspersonals allein nicht zu lösen sind. In den Betrieben herrscht noch immer ein grotesker Mangel an kultureller Diversität und Geschlechtergerechtigkeit, sie sind kaum in der Lage, mit den veränderten Koordinaten einer Einwanderungsgesellschaft umzugehen oder der Lebensweise einer global vernetzten Stadt.

Sie leisten sich rigide Hierarchien und persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, die im Wirtschaftsleben unter den derzeitigen Bedingungen von Vollbeschäftigung kaum durchzusetzen wären. Sie leiden unter dem Zerfall einer bürgerlichen Öffentlichkeit und der Krise der Medien, sie leiden am Bildungswesen einer Wissensgesellschaft, die Bildung zwar mehrt, aber zugleich einseitig auf ihre ökonomische Verwertbarkeit ausrichtet.

All das spielt in aktuellen Berufungsverfahren dem Anschein nach keine große Rolle. Dabei wären tatsächlich Konzepte gefragt, nicht nur die von Bewerberinnen in einem Ausschreibungsverfahren, sondern Konzepte, mit denen eine proaktiv in institutionelle und gesellschaftliche Verhältnisse eingreifende Kulturpolitik die traditionelle Hochkultur auf ihrem Blindflug durch den gesellschaftlichen Wandel gerade noch vor der Bruchlandung bewahrt. Eine Politik, die nicht nur eine wie auch immer zeitgemäße Programmierung anstrebt, sondern Künstlerinnen und Künstlern Produktionsverhältnisse einer demokratischen Gesellschaft bereitstellt und wirksam Schritte setzt, die kulturelle Repräsentation der Gesellschaft ihrer Realität anzunähern.

Die Leute gehen heute weniger ins Theater, nicht weil es so viel schlechter ist als früher, sondern weil sich ihr Alltag verändert hat und die "Leute" sich heute anders zusammensetzen als noch vor Jahrzehnten. Auch ist der gute Ruf des Theaters keineswegs so ruiniert, wie es die Diskussion glauben macht. Knapp ein Drittel der Befragten sind nach einer Studie der Universität Hildesheim offen für Institutionen der Hochkultur, sprich: Sie gehen einmal pro Jahr hin. Ein harter Kern von zehn Prozent geht viermal pro Jahr ins Theater.

Tradition mit Aussichten

86 Prozent derer, die nicht hingehen, sind dennoch dafür, dass es öffentlich gut finanziert wird. Diese Zustimmung stürzt allerdings in den Alterskohorten 39 und jünger massiv ab. Die Theater praktizieren unbemerkt die Kunst des Verlernens, und das relativ unabhängig von den Zufällen der Programmierung. Es trifft Verfechter der Tradition kaum weniger als jene, die Angesagtes aus angesagten Szenen aufgreifen und damit auch nur das Publikumspotential eines gut eingeführten Szeneorts realisieren.

Große Theater sind Anachronismen. Aber darin sind sie äußerst nützlich als die wenigen verbliebenen Orte einer nicht medial vermittelten, sondern noch physisch erfahrbaren Öffentlichkeit, Orte, an denen sich unterschiedliche Milieus einer Gesellschaft noch begegnen können, die sich durch Lebensstile und Konsumpraxis voneinander abgrenzen und nicht mehr durch ökonomische Faktoren.

Darin liegen das politisches Moment und die verbliebenen Aufgaben des Theaters. Bei der Strafe seines Untergangs muss es seine lange, große Erzählung für kommende Generationen anschlussfähig machen, und es muss die existierende Diversität der Gesellschaft in sich aufnehmen, nicht nur die Eliten etwas bunter machen. (Uwe Mattheiß, 7.1.2023)