Ein Mob stürmte am Sonntag in Brasília den Präsidentenpalast, den Kongress und den Obersten Gerichtshof.

Foto: IMAGO/Ton Molina

Aufgebrachte Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro haben am Sonntag in Brasília den Präsidentenpalast, den Kongress und den Obersten Gerichtshof gestürmt und dort einige Stunden lang Verwüstungen angerichtet. Am Montag haben Sicherheitskräfte wieder die Kontrolle über die Gebäude erlangt und rund 230 Menschen verhaftet. Die Szenen erinnerten an jene im US-Kapitol nach der Wahlniederlage von Donald Trump vor zwei Jahren oder auch an die Stürmung des Präsidentenpalastes im Sommer in Sri Lanka. DER STANDARD beantwortet die wichtigsten Fragen zu den Tumulten in Brasília.

VIDEO: Buchautor und Journalist Andreas Nöthen über Anzeichen für eine Erstürmung, Behördenversagen und die Mitverantwortung des Ex-Präsidenten.
DER STANDARD

Frage: Wie heftig waren die Ausschreitungen am Sonntag in der brasilianischen Hauptstadt? Was ist eigentlich passiert?

Antwort: Amateuraufnahmen zeigen wild brüllende Anhänger des rechtspopulistischen Ex-Präsidenten Bolsonaro, die Sicherheitsabsperrungen der Polizei durchbrachen, einen berittenen Polizisten vom Pferd stießen und danach in die öffentlichen Gebäude stürmten.

Sie zerschlugen offenbar planlos Fensterscheiben der historischen Gebäude des weltbekannten Architekten Oscar Niemeyer, zündeten Feuer an und sprangen unter Gebrüll auf der Rednertribüne des Parlaments umher. Im Inneren der Gebäude ließen die Randalierer ihrem Hass auf die neue Linksregierung freien Lauf. Sie stießen Sessel und Schreibtische um, warfen Fensterscheiben ein, beschädigten Kunstwerke und schmierten Parolen an die Wände. Ein Angreifer nahm sogar die Bürotür des bei Bolsonaro-Anhängern besonders verhassten Bundesrichters Alexandre de Moraes als Trophäe mit.

Die Gebäude befinden sich alle nahe beieinander.
Foto: APA

Etwa drei Stunden später wurden die Randalierer von eilends herbeigerufenen Sonderkommandos unter Kontrolle gebracht. Medienschätzungen zufolge nahmen rund 3.000 Menschen an der Attacke teil. Die Gebäude waren zu dem Zeitpunkt verwaist.

Frage: Waren die Stürmungen spontane Aktionen?

Antwort: Nicht wirklich. Der Gewaltausbruch krönte eine Serie von Protesten, die nach der Wahlniederlage von Bolsonaro Ende Oktober begonnen hatte. Seit Monaten blockieren seine Anhänger Straßen und campieren vor Militärkasernen mit der Forderung nach einem Militärputsch. Kurz vor Weihnachten versuchte ein Mob bereits einmal, das Polizeihauptquartier zu stürmen.

Im Inneren der Gebäude entstand großer Schaden.
Foto: Reuters/ADRIANO MACHADO

Am Freitag war das erste der Camps in Belo Horizonte aufgelöst worden. Am Samstag hatte der neue Justizminister Brasiliens, Flávio Dino, die Mobilisierung der Nationalen Sicherheitskräfte, einer Elitetruppe der Polizei, angeordnet, um den Rest der Bolsonaro-Fan-Zeltlager aufzulösen.

Am Montag räumten Sicherheitskräfte ein Camp der Bolsonaro-Anhänger vor dem Hauptquartier der Streitkräfte in Brasília und setzten die Aktivisten vorübergehend fest, wie das Nachrichtenportal G1 berichtete. Sie wurden in etwa 40 Bussen zum Sitz der Bundespolizei gebracht, wie im Fernsehen zu sehen war.

Frage: Wogegen protestieren die Bolsonaro-Anhänger und -Anhängerinnen eigentlich?

Antwort: Seit dem 1. Jänner ist Bolsonaros Erzfeind, Lula Inácio "Lula" da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT), im Amt. Die aktuellen Szenen veranschaulichen die große Kluft, die Brasiliens Gesellschaft spaltet. Lula hatte nur mit hauchdünnem Vorsprung vor dem Rechtspopulisten gewonnen. Sein Vorhaben, das Land wieder zu versöhnen, dürfte eine Mammutaufgabe werden.

Bolsonaro, der sich inzwischen angesichts drohender Strafverfolgung nach Miami abgesetzt hat, hatte seine Niederlage nie richtig eingestanden und war der offiziellen Amtsübergabe ferngeblieben. Der Trump-Bewunderer hatte im Vorfeld der Wahl versucht, die in Brasilien üblichen elektronischen Urnen zu diskreditieren, weshalb viele seine Fans an einen Wahlbetrug glauben.

Das Volk werde sich die Wahl nicht stehlen lassen, hatte Bolsonaro erklärt. Am Sonntag äußerte er sich erneut kryptisch zu der Gewalteskalation. "Friedliche Demonstrationen sind Teil der Demokratie. Plünderungen und Überfälle auf öffentliche Gebäude, wie sie heute stattgefunden haben, sowie diejenigen, die 2013 und 2017 von der Linken praktiziert wurden, sind Ausnahmen", twitterte er. In seinem Profil steht er weiterhin als Präsident Brasiliens.

Frage: Wie reagierte der neue Präsident Lula auf die Situation?

Antwort: Lula, der während des Vorfalls im Bundesstaat Sao Paulo war, beschwerte sich über mangelnde Sicherheit in der Hauptstadt. Die Polizei habe erlaubt, dass Faschisten und Fanatiker diese Schäden anrichteten, sagte er unter Anspielung auf die Unterstützerbasis, die Bolsonaro bei den Sicherheitskräften hat. Der Staatschef versprach, alle am Vandalismus Beteiligten aufzuspüren und zu bestrafen. Vorwürfe richtete er auch gegen Bolsonaro, "diesen Völkermörder, der all das über seine sozialen Netzwerke von Miami aus anheizt".

Frage: Welche Konsequenzen drohen nun den Personen, die am Mob teilgenommen haben?

Antwort: Justizminister Flavio Dino zufolge wurden rund 230 Menschen festgenommen. Die Regierung untersuche außerdem, wer die 40 Busse angemietet habe, mit denen die Anhänger nach Brasília kamen, sagte er. Auch die finanziellen Unterstützer der Proteste müssten mit Strafen rechnen.

Bundesrichter Moraes hat außerdem den Gouverneur des Regierungsdistrikts Ibaneis Rocha für 90 Tage abgesetzt. Der Richter ordnete weiters an, dass Nutzer und Nutzerinnen, die auf den sozialen Medien "antidemokratische Propaganda" verbreiten, von Facebook, Twitter und Co verbannt werden.

Frage: Wie reagierten Nachbarländer und andere Staaten weltweit?

Antwort: Rückendeckung bekam Lula von Staatschefs aus der Region, darunter die Nachbarländer Argentinien und Uruguay. Auch Frankreich und Spanien sprachen Lula umgehend ihre Unterstützung aus. Kolumbiens linker Präsident Gustavo Petro kritisierte den Umsturzversuch und forderte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zum Eingreifen auf. Auch US-Präsident Joe Biden verurteilte den "ungeheuerlichen Vorfall" aufs Schärfste. Die USA gaben am Montag bekannt, bisher keinen Auslieferungsantrag der brasilianischen Regierung gegen Bolsonaro erhalten zu haben.

Frage: Gibt es Verbindungen zu den Anhängern des Kapitol-Sturms in den USA?

Antwort: Der Sturm auf das US-Kapitol im Jänner 2021 hatte weltweit eine Vorbildwirkung. Die damaligen Bilder aus Washington gingen um die Welt. Die genaue Involvierung von Donald Trump in die Aktivitäten des Mobs ist aktuell Gegenstand von Untersuchungen. Auch Trump war damals erst kürzlich bei Wahlen knapp besiegt worden und wollte die Niederlage nicht anerkennen. Bolsonaro und Trump stehen sich politisch nahe und unterhielten bereits während ihren Amtszeiten enge Beziehungen. Bolsonaro befindet sich seit rund einer Woche in Miami, Florida.

Der Sturm des Kapitols hat aber auch andernorts Auswirkungen gezeigt. Nur rund ein Monat nach den Tumulten in Washington stürmten wütende Bauern in Indien das Rote Fort in Delhi. Sie forderten in wochenlangen Protesten die Rücknahme einer höchst umstrittenen Agrarreform, die der dortige Premier Narendra Modi durchdrücken wollte.

Und im heurigen Sommer sorgten Bilder aus Sri Lanka weltweit für Aufsehen, die hunderte wütende Demonstranten zeigten, wie sie in der Hauptstadt Colombo unter anderem den Präsidentenpalast stürmen. Der dortige Präsident Gotabaya Rajapaksa trat daraufhin zurück und verließ das Land, zumeist verweilte er danach in Singapur. Im September kehrte der Hardliner zwar nach Sri Lanka zurück, versucht aber seitdem in die USA auszureisen, wo er bereits früher gelebt hatte. (Sandra Weiss, Anna Sawerthal, 9.1.2023)