Bereits vergangene Woche hatte das Verfassungsgericht die HDP vorerst von der Parteienfinanzierung ausgeschlossen.

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Istanbul/Ankara – Wenige Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei hat die Staatsanwaltschaft vor dem türkischen Verfassungsgericht ein Verbot der prokurdischen Partei HDP wegen "Terrorismus" gefordert. Die drittgrößte Partei des Landes sei auf "organische Weise" mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbunden, sagte Generalstaatsanwalt Bekir Sahin nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu, als er am Dienstag das Gerichtsgebäude verließ.

"Unsere ganze Gesellschaft weiß darüber Bescheid. Sie operieren fast wie ein Rekrutierungsbüro" der PKK, warf Sahin der HDP vor. Die PKK, die im Südosten der Türkei und im Nordirak gegen den türkischen Staat kämpft, wird von der Türkei und westlichen Verbündeten als Terrororganisation eingestuft. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan beschuldigt die linksgerichtete Oppositionspartei HDP regelmäßig, der politische Arm der PKK zu sein.

Kritik von westlichen Ländern und Bürgerrechtsaktivisten

Die HDP, die drittstärkste Kraft im türkischen Parlament ist, weist die Vorwürfe zurück. Westliche Länder und Bürgerrechtsaktivisten kritisieren das Vorgehen der türkischen Behörden gegen die Partei als politisch motiviert. Bei der Parlamentswahl 2018 hatte die HDP knapp sechs Millionen Stimmen erhalten und damit 56 der 579 Parlamentssitze. Die islamisch-nationalistische Regierung von Erdoğan geht seit Jahren hart gegen die Partei vor. Viele ihrer Anhänger und Vertreter sitzen im Gefängnis.

Bei einem Verbot der linksgerichteten HDP würde Erdoğan rechtzeitig vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl, die voraussichtlich vor Juni stattfinden wird, einen wichtigen politischen Gegner kaltstellen. Der Präsident steht derzeit innenpolitisch immens unter Druck, insbesondere wegen der extrem hohen Inflationsrate und wegen weiterer Wirtschaftsprobleme. Der HDP könnte nach der Wahl eine zentrale Rolle bei der Regierungsbildung zufallen.

Für ein Verbot der HDP durch das Verfassungsgericht müssten mindestens zwei Drittel der 15 Mitglieder stimmen. Die HDP rechnet nach eigenen Angaben mit einer Entscheidung "in den kommenden Monaten, vor den Wahlen". Bereits vergangene Woche hatte das Verfassungsgericht die HDP wegen des Vorwurfs der "Verbindungen zum Terrorismus" vorerst von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen und ihr damit ihre Haupteinnahmequelle genommen.

Vorgeschobene Terrorismus-Vorwürfe

Der ehemalige Chefredakteur der türkischen Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, warf Erdoğan vor, seine politischen Widersacher mit vorgeschobenen Terrorvorwürfen auszuschalten. "Jeder, der sich gegen Erdoğan stellt, gilt als Terrorist", sagte der im Exil in Berlin lebende Publizist am Montagabend dem RBB-Sender Radioeins.

In dem Interview reagierte Dündar auf Berichte, wonach die türkische Regierung 25.000 Euro für Hinweise auf ihn ausgesetzt haben soll. Offenbar versuche Erdoğan "seine Unterstützer damit zu mobilisieren, dass er meinen Namen auf die Liste setzt", sagte er.

Er kämpfe dennoch weiterhin gegen Erdoğan und sei sich zugleich bewusst, dass er als Gegner des türkischen Staatschefs "nirgendwo mehr sicher" sei. Er meide daher Orte in Berlin, an denen sich "Erdoğan-Unterstützer konzentrieren", und verbringe viel Zeit in seinem Büro und zu Hause, sagte Dündar auf Radioeins. (APA, AFP, 10.1.2023)