"Protect your daughter! Educate your son!" lautet ein Slogan, wenn es um Gewaltprävention geht. Der Fokus soll damit auf den Verursacher, sprich Täter, und nicht auf das Opfer gelegt werden. Die Realität schaut aber meist anders aus. Denn vielfach werden Mädchen und Frauen darauf hingewiesen, doch mit dem Taxi nach dem Fortgehen heimzufahren, damit sie sicher nach Hause kommen, oder im Club auf das Getränk aufzupassen beziehungsweise mittels Teststreifen zu kontrollieren, ob es frei von K.-o.-Tropfen ist. Letzteres sogar häufig mittels Kampagnen. Frauen müssen demnach in Alarmbereitschaft sein, sich quasi darauf einstellen, dass sie potenzielle Opfer sind.

Die Verantwortung trägt die Frau – oder doch nicht?
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Auch wenn man sich dessen bewusst ist, dass Mädchen und Frauen das anziehen sollen, worin sie sich wohlfühlen und was ihnen gefällt, reagiert man vielleicht bei der Tochter in Kleidungsfragen manchmal nicht recht feministisch und möchte nicht, dass sie mit Hotpants oder allzu kurzem Rock herumläuft, weil man befürchtet, dass sie damit eher zum Opfer wird. Es schwingt mit, dass Frauen durch ihr Auftreten und ihre Kleidung eine Tat provozieren. Ja, Mädchen und Frauen erleben in vielen Bereichen sexualisierte und sexuelle Übergriffe, aber das hängt nicht von ihrem Kleidungsstil ab. Das zeigen auch die Ausstellung "Was hast du an dem Tag angehabt?" in Belgien oder das Projekt "What were you wearing?" sehr eindrücklich, wo Kleidungsstücke von Vergewaltigungsopfern gezeigt werden.

Feministischer Zwiespalt

Auch wenn man sich all dessen bewusst ist, fällt es doch bei der eigenen Tochter manchmal sehr schwer, sie nicht zur Vorsicht zu mahnen. Natürlich aus den besten Absichten, nämlich um sie vor Übergriffen und Gewalttaten zu bewahren. Aber gleichzeitig wird ihr vermittelt, auf der Hut zu sein, in Alarmbereitschaft sein zu müssen und ein Stück weit auch die Verantwortung für mögliches Fehlverhalten von Männern zu übernehmen. Sollte man diese Verantwortung aber nicht endlich dorthin schieben, wo sie eigentlich hingehört – nämlich zu den übergriffigen und gewaltbereiten Männern, die ihr Verhalten ändern sollten? "Belästige keine Frau, wenn du fortgehst!", "Misch niemanden K.-o.-Tropfen ins Getränk!" und "Verhalte dich gefälligst nicht toxisch!" – diese Ratschläge hört wohl kein Sohn, bevor er sich mit Freunden zum Weggehen verabredet.

Wie gehen Sie damit um?

Wie schaffen Sie den Zwiespalt, Ihre Tochter zu schützen, ihr gleichzeitig aber nicht die Verantwortung für Fehlverhalten von Männern aufzubürden? Gibt es Ihnen ein Gefühl der Sicherheit, wenn Sie Ihrer Tochter Extra-Taxigeld zustecken oder Teststreifen für K.-o.-Tropfen mitgeben? Und wie machen Sie im Vergleich Ihrem Sohn klar, was Grenzüberschreitungen sind und wie er sich anderen – vor allem Frauen – gegenüber verhalten soll? (Judith Wohlgemuth, 12.1.2023)