Novak Djokovic hat die Saison mit einem Turniersieg in Adelaide begonnen. Bei den Australian Open in Melbourne strebt er seinen zehnten Titel an. Der wäre ein Schritt zum Lebensziel.

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Günter Bresnik hat geirrt. Das kann bei Fachleuten vorkommen. Jedenfalls hatte Österreichs wohl erfolgreichster Tennistrainer vor rund zwei Jahren behauptet, bis zum Jahre 2025 würden sich Dominic Thiem und der Deutsche Alexander Zverev um Grand-Slam-Titel duellieren. "Eine Fehleinschätzung", sagt er dem STANDARD. Wobei, dies zur Entschuldigung, Bresnik die Verletzungen der beiden nicht hat voraussehen können. Da ein Irrtum an Einsamkeit leidet, gesellte sich ein zweiter dazu. "Carlos Alcaraz hatte ich nicht auf der Rechnung." Der 19-jährige Spanier wurde Bresnik zum Trotze die Nummer eins, er ist momentan verletzt, fehlt bei den am 16. Jänner in Melbourne beginnenden Australian Open. "Das Jahr wird zeigen, ob er Novak Djokovic fordern oder gar ablösen kann." Bresnik hat Zweifel. "Es wird das Jahr von Djokovic, er ist die wahre Nummer eins."

Der 35-jährige Serbe durfte 2022 bei zwei der vier Grand-Slam-Turniere nicht antreten (Verweigerung der Corona-Impfung). Wimbledon gewann er, allerdings wurden keine Punkte vergeben. Das hatte nichts mit dem Virus zu tun, sondern mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Die Veranstalter hatten Russen und Russinnen ausgeschlossen, brachen die Regeln der ATP. Djokovic fielen alle Zähler aus der Wertung. Bresnik sagt: "2022 war geprägt durch seine Abwesenheit, er hatte ja Berufsverbot. Ich will nicht beurteilen, ob das gerecht war. Jedenfalls lebt er für seine Sache, er möchte der beste aller Zeiten werden. Er ist eine mentale Allzeitgröße. Seine Beliebtheitswerte sind niedrig, das will er ändern." Jürgen Melzer, der Sportdirektor des österreichischen Tennisverbandes, stimmt zu. "Djokovic will alles."

Geist von Federer

Der "Djoker" hält bei 21 Grand-Slam-Titeln, Rekordhalter Rafael Nadal hat 22. Bresnik glaubt nicht, dass der 36-jährige Spanier ihn dauerhaft wird fordern können. "Nadals Körper macht nicht mit." Ein anderer Gegner von Djokovic hat den Schläger längst eingepackt. "Trotzdem spielt er irgendwie gegen die Übermacht Roger Federer. Der wurde geliebt, Djokovic hat eine Sehnsucht nach Liebe."

Bei den Frauen dürfte an der Spitze die Spannung begrenzt sein. Die Polin Iga Swiatek (21) hat den Rest abgehängt. "Sie ist wirklich gut", sagt Bresnik, "aber als Person etwas farblos." Melzer bestätigt: "Es fehlt die schillernde Figur, Swiatek muss erst reinwachsen." Eine Erbin von Serena Williams ist möglicherweise noch gar nicht geboren. Laut Bresnik könnte am ehesten die US-Amerikanerin Goco Gauff (18) Akzente setzen. "Sofern sie große Titel holt." Es sei jedenfalls nicht förderlich, dass die Depressionen der Naomi Osaka "das Topthema sind. So tragisch das sein mag, aber wer kümmert sich ums Burnout einer Krankenschwester? Tennisprofi ist ein toller, privilegierter Beruf."

Keine Kaffeesudleserei

Profitennis wird logischerweise auch in Österreich praktiziert. 2023 könnte einiges passieren. Kaffeesudleserei lehnen Bresnik und Melzer ab. Prognosen bei Thiem, der 2020 die US Open gewonnen hat, wären unseriös. Bresnik, sein im Streit geschiedener Mentor, geht davon aus, "dass er von der Klasse her natürlich wieder in die Top 20 vordringen kann". Über Thiems Umfeld will sich der 62-Jährige nicht äußern, die Gefahr, ein Schreiben von einem Anwalt zu bekommen, wäre zu groß. Melzer sagt: "Thiem fehlt die Matchpraxis. Er muss bereit sein, sein letztes Hemd zu geben. Dann wird es wieder."

Bei Jurij Rodionov (ATP 122), Dennis Novak (145), Filip Misolic (149) und Sebastian Ofner (193) scheint ein Vorstoß in die Top 100 möglich. Melzer: "Sie müssen Konstanz entwickeln. Ein Titel bei einem Challenger reicht nicht, du brauchst fünf, damit die Tür aufgeht." Julia Grabher ist Nummer 83. Die 26-Jährige wird von Bresnik trainiert. "Sie maximiert ihr Potenzial, geht den harten Weg", sagt er. "Sie bekommt auch die Gelegenheit, zu verlieren und Watschen zu kassieren. Auf Hartplatz tut sie sich schwer, wir perfektionieren Rückhand, Aufschlag und Return." Sinja Kraus ist erst 20, liegt an 193. Stelle. Melzer: "Sie kann es packen." Dahinter sei die Luft aber "sehr dünn".

Im Sport wird eine Ethikdiskussion geführt, Bresnik beteiligt sich daran. "Ich halte Tennis für moralisch, mir taugt der Wettkampf Mann gegen Mann, Frau gegen Frau. Das Geld wird niemandem weggenommen. Der Sport kann kein Weltverbesserer sein, er ist nämlich besser als die Welt." Melzer hält sich raus. "Schuster, bleib bei deinem Leisten. Das österreichische Tennis soll besser werden." (Christian Hackl, 11.1.2023)