Die Höhle von Altamira in Spanien ist bekannt für ihre prähistorischen Malereien. Was bedeuten die Punkte und Striche, die sich neben einigen Tierbildern befinden?
Foto: Pedro Puente Hoyos / EFE / EPA

Worüber haben Menschen vor 30.000 Jahren nachgedacht? Die Frage zählt zu den großen Rätseln der Menschheit – immerhin gab es damals offenbar noch keine Aufzeichnungen, die sich gut mit historischen Schriften späterer Jahrtausende vergleichen ließen. Dennoch suchen Archäologinnen und Archäologen seit jeher nach kleinsten Hinweisen zum Verhalten unserer Vorfahren – und allem, was sie im Alltag und zu besonderen Ereignissen beschäftigte.

Was schriftlichen Spuren wohl am nächsten kommt, sind die Malereien, die in einigen Höhlen die Wände zieren und mit denen Gegenstände dekoriert wurden. Dabei bildeten die Künstlerinnen und Künstler nicht nur Tiere und Menschen ab: Sie versahen Wände und Objekte mit Zeichen, deren Bedeutung Fachleute vor ein Rätsel stellt. Was könnten die Reihen an Punkten, Strichen und Y-förmigen Markierungen bedeuten?

Die Kennzeichnungen aus der Zeit des Paläolithikums (Altsteinzeit), die das Forschungsteam untersuchte, finden sich in verschiedenen Höhlen Europas.
Bild: Bacon et al. 2023 / https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lascaux_004.jpg / H. Breuil et al. 1913 & in del Rio et al. 1911 / https://web.archive.org/web/20120222092520/http://www.istmira.com/foto-i-video-pervobytnoe-obschestvo/3924-iskusstvo-predystorii-pervobytnost-2.html / https://www.hominides.com/musees-et-sites/grotte-mayenne-sciences/ Wellcome Collection / The Wendel Collection, Neanderthal Museum / Berenguer 1994

Auch der Londoner Möbelrestaurator Bennett Bacon war fasziniert von den Zeichen. Stundenlang beschäftigte sich der Hobbyforscher mit den Markierungen und tauchte in die Ur- und Frühgeschichte ein. Er formulierte eine interessante Theorie – und wandte sich damit unter anderem an Wissenschafter der Universität Durham. Diese waren durchaus angetan von seiner Idee, und nach einem langwierigen Reviewprozess von mehr als zwei Jahren ist nun endlich die gemeinsame Forschungsarbeit im "Cambridge Archaeological Journal" erschienen.

Mondkalender für die Jagd

Bereits der Titel erweckt Eindruck: Ein "Proto-Schreibsystem" aus der jüngeren Altsteinzeit wird vorgestellt, das eine kalendarische Dokumentation von Naturphänomenen voraussetzt. Soll heißen: Mit den Markierungen wurden vielleicht Monate gezählt, die angeben, wann sich im Verhältnis zum Frühlingsbeginn Auerochsen paarten, Fische ablaichten oder Mammuts Jungtiere gebaren.

Damit wären die Markierungen vergleichbar mit Zählstrichen heute. Der Kalender, der sich der Vermutung zufolge an den Mondphasen und damit Zeiträumen von 28 Tagen orientierte, könnte bei Jagd und Essensfindung geholfen haben. Durch das langfristige Festhalten dieser Informationen würden so lebenswichtige Vorgänge für die damaligen Jäger-Sammler-Gesellschaften dokumentiert.

Langfristiges Muster

Mehr als 600 Tierbilder in verschiedenen Höhlen und auf Artefakten flossen in die Statistik des Forschungsteams ein. Dazu gehören die weltweit bekannten Höhlenmalereien von Altamira in Spanien und Lascaux in Frankreich. Die analysierten Markierungen dürften vor 36.000 bis 11.000 Jahren genutzt worden sein, schreibt das Team.

Das Ergebnis der Studie fällt deutlicher aus als gedacht: Nahezu alle sieben Jagdtiere, die oft die Höhlenwände zieren, haben übereinstimmende "Zahlenmarkierungen". Außerdem passen diese oft zu typischen Geburten- oder Paarungsmonaten, wie das Team herausfand – zumindest wenn sich diese mit den Lebenszyklen der heutigen Bisons, Hirsche und lebenden Verwandten der Mammuts und Wollnashörner vergleichen lassen.

"Die Ergebnisse zeigen, dass die eiszeitlichen Jäger und Sammler die Ersten waren, die einen systemischen Kalender und Markierungen verwendeten, um Informationen über wichtige ökologische Ereignisse in diesem Kalender festzuhalten", wird der an der Studie beteiligte Archäologe Paul Pettitt von der Universität Durham in England im "Guardian" zitiert.

Kritik von Fachleuten

Der Interpretation des englischen Teams zufolge geben die Punkte und Striche den Monat der Paarungszeit einer Tierart an. Die Y-Markierungen hingegen könnten anzeigen, wann Junge zur Welt kommen oder Fischeier abgelegt werden. Freilich sind dies nicht die ersten Interpretationen der mehrfach auftretenden Striche und Punkte neben den Tierbildern. So bezogen sich bisherige Erklärungsversuche beispielsweise darauf, dass die Anzahl erlegter Tiere dokumentiert wurde – eine Art "Trophäenschrank" also. Ebenfalls könnte es sich um Markierungen zu Gruppenidentität oder (künstlerischem) Ausdruck handeln.

Neben Strichen gibt es auch Y-förmige Markierungen, die das Forschungsinteresse erregten.
Bild: Bacon et al. 2023 / B. Bacon / Vialou 1979 / Delluc & Delluc 1981

Die Studie mit ihrem ungewöhnlichen Forschungsteam sorgte bereits für intensive Diskussionen unter Expertinnen und Experten. Während die interessante zweckmäßige Deutung der Zeichnungen hervorgehoben wird, gibt es auch Kritik: "Den Zusammenhang von Markierungen und Paarungszeiten würden wir aufgrund der vorgelegten Daten noch nicht als gesichert ansehen", betont etwa die Forschungsgruppe Quartärarchäologie des Österreichischen Archäologischen Institutes (ÖAI) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gegenüber dem STANDARD.

Klimaveränderungen und die Tierwelt

"Dass jahreszeitliche Zyklen sowie Bewegungsmuster von Tieren für Wildbeuter:innen sehr wichtig sind, ist unumstritten", merkt das Team um Forschungsgruppenleiter Thomas Einwögerer an. "Ob es hierzu jedoch eines so komplexen Zeichensystems bedarf, ist fraglich, vor allem, da man annehmen kann, dass die Zeitpunkte von Paarung und Geburt den damaligen Jäger:innen sehr gut bekannt waren, sodass ein Aufschreiben dieses Faktes keinen besonderen Vorteil bietet."

Auch sei gerade im Zuge der Klimaveränderungen der rund 20.000 Jahre währenden jüngeren Altsteinzeit damit zu rechnen, dass sich die Rhythmen der Tiere anpassten – und somit Paarungs- und Geburtszeiten veränderten. Bei der Statistik in der Studie werde dies allerdings gleichgesetzt und die Daten zu eiszeitlichen Tieren mit jenen heute lebender Tiere vermengt, die mitunter in anderen Weltregionen und Klimazonen – etwa der afrikanischen Savanne – leben.

Auch an österreichischen Fundstücken haben sich Strichmarkierungen erhalten, hier etwa eine Elfenbeinlamelle mit Rötelverzierung von der Freilandfundstelle Krems-Wachtberg.
Foto: ÖAI, ÖAW

Nicht mit Keilschrift vergleichbar

Entsprechend ist die ÖAW-Forschungsgruppe auch überrascht von der Korrelation mit der Paarungszeit, die sich in der Studie zeigt. "Eher hätten wir eine Korrelation mit Migrationsmustern erwartet, welche wesentlich wichtiger gewesen sein dürften." Eine weitere Schwierigkeit: Ob die Markierungen von Anfang an Teil der Tierbildnisse waren, gleichzeitig gesetzt wurden oder über einen größeren Zeitraum zusammenkamen, lässt sich kaum feststellen.

Und: "Die Anwendung von Statistik zur Belegung der Erklärungsversuche ist zwar lobenswert, jedoch ist die Methode nicht klar dargelegt", sagen die Forschenden. Bei einigen Annahmen der Studie fehlen ausführlichere Belege und Diskussionen, auch zu den Details der statistischen Methode.

Besonders skeptisch ist die österreichische Forschungsgruppe in Bezug auf den Vergleich der Zeichen mit Vorläufern von Schriftzeichen: "Die Interpretation der Ergebnisse als Schriftsystem vergleichbar zur Keilschrift ist in jedem Fall kritisch zu sehen und wäre in unseren Augen abzulehnen." Insgesamt bleiben also viele offene Fragen. Die Antwortversuche sollten etwa mit ethnografischen Vergleichen von Jäger- und Sammler-Gesellschaften ergänzt werden, schlagen die österreichischen Forschenden vor.

Laien in der Forschung

Doch spornt die Arbeit auch zur Diskussion und zur Findung von Belegen und Gegenbelegen an, streicht die Gruppe heraus – und sie zeigt "die zunehmende Bedeutung und erfolgreiche Integration von Laien in die archäologische Fachwelt". So können frische Gedanken ihren Weg in die Wissenschaft finden, wenngleich intensive Zusammenarbeit mit Fachleuten notwendig sei. Auch am Archäologischen Institut der ÖAW entstanden so bereits gelegentlich bereichernde Kooperationen.

Die Höhle von Lascaux, in der beeindruckende Tiermalereien erhalten sind, kann zumindest in Form einer Replik besichtigt werden.
Foto: APA/AFP/PHILIPPE LOPEZ

"Problematisch kann es jedoch werden, wenn Hobbyforscher:innen durch eine fixe Idee 'festgefahren' sind und auch nach der Widerlegung daran festhalten", sagt das Team. Doch wenn sich jemand wie Ben Bacon besonders intensiv und begeistert "mit der Urgeschichte beschäftigt, eigene Ideen einbringt und seine Hypothesen auf wissenschaftlich untermauerte Argumente bezieht", sei dies zu begrüßen.

Besonders beeindruckt zeigte sich Bacon davon, sich den Menschen, die die Steinzeitkunst schufen, näher zu fühlen: "Je tiefer wir in ihre Welt eindringen, desto mehr entdecken wir, dass diese alten Vorfahren uns viel ähnlicher sind, als wir bisher dachten." Ein Aspekt, der im Alltag der Archäologinnen und Archäologen allgegenwärtig ist und daran erinnert, Menschen früherer Epochen nicht zu unterschätzen: "Sie konnten sich in ihrer rauen Umwelt behaupten, indem sie mit ihren Möglichkeiten vernunftbegabt und innovativ umgingen", unterstreicht das ÖAW-Forschungsteam.

Gut vernetzte Gesellschaften

Auch wenn nicht festgeschrieben werden kann, was der mögliche Code neben den Malereien bedeutet: Er inspiriert Forschergeister und verdeutlicht, dass Wildbeutergesellschaften in der Altsteinzeit durchaus gut vernetzt waren. Jedenfalls ließen sich die ähnlichen Markierungen in hunderten Höhlen Europas auf diese Weise lesen. Dies ist nicht das einzige Indiz für Austausch zwischen Gemeinschaften zu dieser Zeit, wie die Forschungsgruppe um Einwögerer deutlich macht: "Ein besonders gutes Beispiel ist hier die Versorgung mit Steinrohmaterialien für die Herstellung von geschlagenen Steinwerkzeugen, die oft auf Transportwege von mehreren Hundert Kilometern hinweisen."

Das zeigen Funde im niederösterreichischen Krems: Die Rohmaterialien für die Werkzeuge stammen aus dem polnisch-tschechischen Grenzbereich. Auf den europäischen Raum war dies nicht beschränkt, wie vor wenigen Jahren etwa 50.000 Jahre alter afrikanischer Schmuck aus Straußeneiern belegte. So passen die mysteriösen Markierungen in das stetig etwas schärfer werdende Bild, das die Archäologie von diesem schwierig zu erforschenden Teil der Ur- und Frühgeschichte in den vergangenen Jahren zeichnen konnte. (Julia Sica, 15.1.2023)