Im Eastblog analysiert Daniel Martínek die Situation vor der Wahl und untersucht die aussichtsreichsten Kandidatinnen und Kandidaten sowie ihre Chancen, das Präsidentenamt zu gewinnen.

Am ersten Tag des Jahres 2023 gedachten die Einwohner Tschechiens und der Slowakei  des dreißigsten Jahrestages seit der friedlichen Trennung und der Gründung der unabhängigen Tschechischen beziehungsweise Slowakischen Republik. Zwei Wochen später stehen die Tschechinnen und Tschechen vor einer wichtigen politischen Entscheidung – der Präsidentschaftswahl. In den zwei Wahlrunden am 13. bis 14. und 27. bis 28. Jänner wird entschieden, wer das künftige Staatsoberhaupt des österreichischen Nachbarstaates wird. Drei von neun vom Innenministerium zugelassenen Kandidatinnen und Kandidaten haben die größten Chancen, im März in die Prager Burg einzuziehen (Jetzt sind es nur noch acht, der Vorsitzende des Böhmisch-Mährischen Gewerkschaftskonföderation, Josef Středula, ist am achten Jänner von seiner Kandidatur zurückgetreten). Ihre öffentlichen Auftritte und ihre ideologischen Verankerungen bilden die polarisierte Struktur der tschechischen Gesellschaft deutlich ab.

Ende Jänner steht fest, wer das Präsidentenamt Tschechiens bekleiden wird.
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Drei unterschiedliche Präsidentschaftsdekaden seit 1993

Die Geschichte der tschechischen Präsidentschaft seit der Staatsgründung 1993 war von den drei Amtsinhabern und ihren unterschiedlichen politischen Visionen, Kulturen und Vorgehensweisen bei der Amtsausübung gekennzeichnet. Innerhalb der letzten dreißig Jahre wurde jeder dieser drei Präsidenten wiedergewählt und hatten eine Amtszeit von jeweils zehn Jahren.

Die ersten Jahre nach dem Sturz des kommunistischen Regimes und das erste Jahrzehnt nach der Gründung der Tschechischen Republik waren stark beeinflusst von der einzigartigen Persönlichkeit Václav Havels. Als moralische Autorität und Persönlichkeit des Revolutionsjahres 1989 versuchte er, den neu geschaffenen Staat durch den dornigen Weg der gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Transformation zu einem funktionierenden demokratischen System zu führen. Als tschechoslowakischer Präsident schaffte er jedoch nicht, die Einheit des Landes zu wahren und die Teilung am 1. Jänner 1993 zu verhindern. Das nächste Jahrzehnt in den Jahren 2003 bis 2013 war bestimmt von der konservativen und EU-skeptischen Präsidentschaft von Václav Klaus, der mit kontroversen Äußerungen und Aktivitäten gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung, der Zivilgesellschaft und den Medien sowie einer stark kritische Haltung gegenüber Brüssel in die tschechische Geschichte einging.

Seit 2013 war der Sozialdemokrat Miloš Zeman im Amt und hinterließ als erster direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählter tschechischer Präsident vor allem ein Erbe an rüder, unverblümter politischer Kultur und verbalen Angriffen nicht nur auf politische Gegnerschaft, wie zuletzt Zemans letzte Weihnachtsbotschaft auch zeigte. Das Mandat von Zeman läuft am 8. März 2023 ab, damit beendet der amtierende Präsident nach 32 Jahren seine politische Karriere. Jetzt ist die Zeit für eine Persönlichkeit gekommen, die zum ersten Mal nicht mit der Revolution von 1989 und der anschließenden Transformation verbunden ist. Unterschiedliche Narrative, die auf die kommunistische Vergangenheit einiger Kandidaten aufmerksam machen, kamen dennoch auch in diesem Wahlkampf vor.

Vergangenheitslast statt Zukunftsvision

In demokratisch etablierten Ländern übernimmt Kritik und Verunglimpfung der Gegnerschaft die sachliche Argumentation und Präsentation des Wahlprogramms. Die mangelnde Diskussionskultur von Vorwahldiskursen ist jedoch nicht das einzige Problem der anstehenden Präsidentschaftswahl. In diesem Sinne beherrscht das Thema der moralischen (Dis-)Integrität einzelner Kandidatinnen und Kandidaten, die sich aus ihren Aktivitäten vor und nach 1989 ergeben, die gesellschaftliche Debatte vor der Wahl. Dabei steht vor allem die berufliche Vergangenheit von Andrej Babiš und Petr Pavel im Vordergrund. Diese beiden bilden zusammen mit Danuše Nerudová ein Kandidatentrio, das die Hauptakteurinnen und Hauptakteure im Kampf um das Präsidentenamt darstellt.

Petr Pavel: Karriere im kommunistischen Regime

General Petr Pavel war lebenslang Offizier der tschechoslowakischen beziehungsweise tschechischen Armee, bevor der Vorsitz des Nato-Militärausschusses den Höhepunkt seiner militärischen Laufbahn markierte. In seinem Fall sind die Anfänge seiner Militärkarriere in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, also noch während des kommunistischen Regimes, ein Grund zur Empörung der politischen Gegnerschaft. Die Erklärung, er habe sich als junger Absolvent nicht für Ideologie interessiert, sondern nur seinem Land und seinen Menschen dienen wolle, reicht vielen seiner Kritikerinnen und Kritikern nicht aus.

Andrej Babiš: Unternehmer mit Vergangenheit

Eine einzigartige Situation hat einmal mehr Andrej Babiš geschaffen, Großunternehmer und ehemaliger Ministerpräsident, der für das Präsidentenamt kandidiert, während gegen ihn ein Strafverfahren geführt wurde. EU-Subventionsbetrug und Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit dem Bau seines Wellness-Ressorts Storchennest (Čapí hnízdo) sind die Hauptpunkte der Anklage. In einem von den Medien aufmerksam verfolgten Prozess wurde Babiš vier Tage vor dem ersten Wahlgang freigesprochen. Darüber hinaus wird weiterhin über seine kommunistische Vergangenheit und seine Akte im Archiv der Mitglieder des kommunistischen Geheimdienstes diskutiert. Viele sehen in Babišs Kandidatur für den höchsten Verfassungsbeamten einen beispiellosen Akt und einen völligen Verlust des moralischen Urteilsvermögens und der politischen Kultur.

Danuše Nerudová: Fragwürdige PhD-Abschlüsse

Auch Ökonomin Danuše Nerudová konnte der Kritik an ihrer früheren Tätigkeit nicht entgehen. Während ihrer Amtszeit als Rektorin der Mendel-Universität in Brünn soll es zu schweren Verfehlungen und Verstößen gegen das Universitätsgesetz gekommen sein. Dabei soll es sich um Plagiate, in verdächtig beschleunigter Weise erhaltene PhD-Abschlüsse oder erfundene Publikationstätigkeiten innerhalb mancher Doktoratsstudien an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät handeln.

Der letzte und wichtige Teil des Wahlkampfs ist somit stark begleitet von den Ereignissen um den Babiš-Prozess sowie den Fall um die Mendel-Universität. Der Diskussionsraum über die Rolle des künftigen Präsidenten oder der zukünftigen Präsidentin wird dadurch erheblich eingeschränkt, der Vorwahldiskurs ist massiv von der Vergangenheit der Kandidatinnen und Kandidaten belastet statt von deren Visionen für die Zukunft des Landes.

Symbolisch in Kriegszeiten: vom General zum Präsidenten?

Umfragen zufolge sind die Chancen der oben genannten drei Personen mehr oder weniger gleich; ihnen werden im ersten Wahlgang jeweils 25-30 Prozent der Stimmen prognostiziert. Nach Schätzungen sind bis zu einem Fünftel der Wählerinnen und Wähler noch unentschieden. Das Wahlergebnis hängt daher vom Mobilisierungsgrad der Wählerschaft ab, wobei hier Andrej Babiš einen starken Wählerkern hat, gleichzeitig aber diesem Potential bisher hinterherhinkt. Dies ist im Gegensatz dazu bei Petr Pavel und Danuše Nerudová relativ hoch, weshalb es besonders auf sie selbst ankommt, wie sie in den letzten Debatten in der Wahlwoche auf unentschlossene Wählerinnen und Wähler zugehen. So könnten sich Pavel und Nerudová aufgrund ihres offenen, direkten Verhaltens und ihrer klaren Kommunikation – vermutlich auch verursacht durch einen Mangel an politischer Erfahrung – einen Vorteil verschaffen.

Wie bei jeder Wahl spielen Emotionen und Eindrücke bei der Entscheidung für die meisten Menschen eine große Rolle. Diese bilden sich vor allem bei Fernsehdebatten in der finalen Phase der Wahlkampagne. Nerudová und Pavel können hier positiv wirken, öffentliche Auftritte hingegen sind keine Stärke von Babiš, der auf die Kritik der Gegenkandidaten und Gegenkandidatinnen scheinbar nicht angemessen reagieren kann. Das war dem ehemaligen Ministerpräsidenten selbst bewusst, als er lediglich die Einladung zu nur einer Debatte vor der ersten Wahlrunde annahm. Es ist damit zu rechnen, dass bei seinem eventuellen Aufstieg in die zweite Runde seine Auftritte in Debatten wieder auf das kleinstmögliche Maß minimiert werden. Obwohl Babiš es mit seiner starken Wählerschaft zur Stichwahl schaffen wird, ist er in den Umfragen nicht mehr der Favorit. Sein Ergebnis wird hauptsächlich von den Fähigkeiten seiner Gegnerschaft bestimmt, Wählerinnen und Wähler für Anti-Babiš-Wähler zu mobilisieren.

Für Nerudová ist es nun wichtig, General Pavel in der ersten Wahlrunde zu besiegen und im darauf folgenden Wahlgang seiner Anhängerschaft auf ihre Seite zu ziehen. Nur dann kann sie die Präsidentschaft gewinnen. Petr Pavel hat jedoch nach wie vor die besten Chancen, der vierte Präsident in der Geschichte der tschechischen Republik zu werden. Die Fortsetzung der nicht konfrontativen Kampagne, verbunden mit der Stärkung seiner Autorität als langjähriger Armeeoffizier, die in diesen Zeiten viele Wählerinnen und Wähler aus dem gesamten politischen Spektrum anziehen wird, dürfte für ihn gerade bei der Stichwahl entscheidend sein. Oder wird 2023 das Jahr, in dem sich die Tschechinnen und Tschechen vom Erfolg von Zuzana Čaputovás in der Slowakei inspirieren lassen und die erste Frau überhaupt zur Präsidentin wählen? Vermutlich nicht. Wahrscheinlicher ist, dass wir die Verwandlung eines Generals im Ruhestand zum Staatsoberhaupt erleben. (Daniel Martínek, 12.1.2023)

Daniel Martínek ist Doktorand an der Westböhmischen Universität in Pilsen und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Wien.

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