Mit VR-Brille und einem speziellen Atemgerät taucht eine Patientin in die virtuelle Welt ein. Durch ihre Atmung bewegt sie sich im U-Boot fort.

Foto: Christof Schürpf / HSLU

Nicole steuert ihr U-Boot über den Meeresgrund und nutzt dafür nur ihre Atmung. Ganz langsam atmet sie durch ein spezielles Atemgerät ein und aus. Nach wenigen Metern erreicht sie eine Schatztruhe am Meeresboden. Sie öffnet sich, und Münzen strömen heraus. Das Level ist geschafft. Im gleichen Moment wird Nicole von einem Hustenanfall unterbrochen, wie der Fernsehbeitrag im Schweizer Sender Tele 1 zeigt. Sie nimmt das Atemgerät aus dem Mund.

Zum Glück sitzt Nicole nicht wirklich in einem U-Boot, sondern sicher in einem Raum der Hochschule Luzern (HSLU) in der Schweiz. Sie trägt eine Virtual-Reality-Brille, mit der sie in eine Unterwasserwelt eintaucht. Das Gerät, durch das sie atmet, ist über Sensoren mit dem Computer verbunden. Mit ihren Atemzügen steuert sie so das U-Boot.

Nicole ist 13 Jahre alt und gehört zu rund 1.000 Personen in der Schweiz, die an Cystischer Fibrose leiden. In Österreich kommen pro Jahr rund 25 Kinder mit der Stoffwechselkrankheit zur Welt, schätzt die Med-Uni Wien. Zähflüssiger Schleim setzt sich dabei in der Lunge ab. Um nicht den ganzen Tag schmerzhaft zu husten oder unter Atemnot zu leiden, müssen Betroffene wie Nicole täglich Atemübungen durchführen. Sie sorgen dafür, dass das zähflüssige Lungensekret abgehustet werden kann.

Kindern und Jugendlichen fehlt für Übungen zu Hause aber oft die Motivation. Damit sie die Übungen spielerisch durchführen können, entwickelte der Schweizer Physiotherapeut Thomas Schumacher gemeinsam mit Tobias Kreienbühl vom Immersive Realities Research Lab an der Hochschule Luzern das U-Boot-Spiel für die virtuelle Realität. Es ist eines von vielen Videospielen, die derzeit für den medizinischen oder therapeutischen Einsatz entwickelt werden.

Das Atemgerät ist ein sogenanntes Pari-PEP-System und wird für die Übungen zur Reinigung der Atemwege verwendet. Im Spiel dient es als Controller.
Foto: Christof Schürpf / HSLU

Viele Anwendungsfelder, wachsender Markt

Für Videospiele existieren in der Medizin viele Anwendungsfelder. Wissenschaftlich ist das Feld mittlerweile breit erforscht. Spiele helfen Patientinnen und Patienten, unangenehme oder schmerzhafte Behandlungen besser durchzustehen. Sie unterstützen sie dabei, besser mit mentalen Problemen oder Krebserkrankungen umzugehen. VR-Spiele können Betroffenen mit multipler Sklerose helfen, ihre Balance zu verbessern. Gleichzeitig können Spiele Wissen über Erkrankungen vermitteln und damit den Umgang erleichtern.

Je nach Prognose könnte der Markt für sogenannte Serious Games, zu denen auch medizinische Spiele gehören, bis 2027 jährlich zwischen 20 und 25 Prozent wachsen. Viele in der Spielebranche sehen Potenzial in der Sparte und wenden sich dem medizinischen Bereich zu. "Gut gemachte Spiele können einen großen Impact auf die Gesundheit von Menschen haben", sagt Alexander Pfeiffer, der das Emerging Technology Experiences Lab an der Donau-Uni Krems leitet. Er sieht einen starken Trend in Richtung VR, die es Betroffenen wie Nicole ermöglicht, noch tiefer in das Spiel einzutauchen.

Im Alltag wenig verbreitet

Noch sind die medizinischen Spiele nur in wenigen Krankenhäusern, Ordinationen und Reha-Zentren anzutreffen. Das hat verschiedene Gründe. Spiele, die eine Zulassung als Medizinprodukt erreichen wollen, müssen ausführlich getestet werden. Hersteller müssen belegen, dass das Spiel auch wirklich hilft. Bis zu einem Jahr kann das laut Pfeiffer dauern, je nach Projekt auch länger. Dann dauert es noch, bis das Spiel auf den Markt kommt und in den medizinischen Einrichtungen oder Haushalten landet.

Selbst wenn es das Spiel auf den Markt schafft: Im schlechtesten Fall wird das Gerät, für das das Spiel entwickelt wurde, nicht mehr unterstützt. Gerade für VR-Brillen wie die, die Nicole bei ihren Atemübungen trägt, gibt es häufig nach ein paar Jahren keine Updates mehr. "Wir entwickeln immer für die neueste Technologie und wollen, dass die Spiele in die Haushalte kommen", sagt Pfeiffer. "Aber die Produktlebenszyklen sind viel zu kurz. Das ist ein großes Problem."

Patientin Nicole wird während der VR-Atemtherapie vom Physiotherapeuten Thomas Schumacher begleitet, der die Idee für das U-Boot-Spiel entwickelte.
Foto: Christof Schürpf / HSLU

"Spiele sind so vielfältig wie jedes andere Medium"

Fachleute wie Johanna Pirker, Spiele- und Virtual-Reality-Forscherin an der TU Graz, sehen aber auch die fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft als Hürde. Noch immer herrschen Vorurteile gegenüber Spielen, oft werden sie noch mit Sucht und Gewalt assoziiert – ein veraltetes Bild, sagt Pirker: "Das stimmt schon lange nicht mehr. Spiele sind so vielfältig wie jedes andere Medium."

Dass Ärztinnen und Psychotherapeuten durch Spiele ersetzt werden, ist jedenfalls unwahrscheinlich. In vielen Fällen braucht es eine Fachkraft, die Patientinnen und Patienten betreut und durch die Anwendung begleitet. Auch Nicole wird während der VR-Atemtherapie von einem Physiotherapeuten begleitet. Spieleentwickler weisen deshalb stets darauf hin, dass die Spiele lediglich eine wertvolle Ergänzung, nicht aber eine Alternative für konventionelle Behandlungen sind. Nicht zuletzt können Patientinnen und Patienten laut Pfeiffer stets selbst entscheiden, ob sie ein Spiel überhaupt für die Behandlung nutzen wollen oder nicht.

Zocken bald auf Rezept?

In Zukunft, so hofft die Branche, könnte es medizinische Spiele vermehrt auf Rezept geben, sagen die Expertinnen und Experten. Vorstöße in diese Richtung gibt es bereits. In England ließ der National Health Service (NHS) heuer Spiele vorläufig als Behandlungsmethode für Kinder und Jugendliche bei leichten bis mittelschweren Ängsten zu. Begleitet werden sie von ihren Eltern, die wöchentlich mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin telefonieren, um die Fortschritte zu bewerten.

In den USA etwa wurde vor zwei Jahren das Spiel EndeavorRX für medizinische Zwecke zugelassen. Es richtet sich an Kinder mit ADHS und soll Konzentration und Multitasking fördern. Sieben Jahre dauerte die Entwicklung. Fünf klinische Tests bestätigten, dass das Spiel tatsächlich die Aufmerksamkeit von Kindern verbessert.

Gesundheits-Apps in Deutschland auf Rezept möglich

In Deutschland etwa sind manche Gesundheits-Apps bereits auf Rezept erhältlich. Ärztinnen und Psychotherapeuten können sie verschreiben, die Versicherungen übernehmen die Kosten. Bisher handelt es sich dabei aber nicht um Spiele, sondern um Apps, die Betroffene von Diabetes, Depressionen oder anderen Erkrankungen im Alltag unterstützen.

Tobias Kreienbühl ist Assistent am Immersive Realities Research Lab an der Hochschule Luzern (CH). Er hat das U-Boot-Spiel mitentwickelt.
Foto: Christof Schürpf / HSLU

In der Schweiz und in Österreich existiert eine solche Regelung noch nicht. Künftig könnten Gesundheits-Apps hierzulande über eine digitale Gesundheitsplattform gesammelt und zertifiziert werden, heißt es in der Wiener E-Health-Strategie. Auf dem Weg zum "Videospiel auf Rezept" wäre das laut Fachleuten ein wichtiger erster Schritt. Bis die medizinischen Spiele im großen Stil und nicht nur probeweise verschrieben werden können, wird es aber wohl noch dauern.

U-Boot-Spiel mit weitem Weg

Auch das U-Boot-Spiel, das Patientin Nicole bei ihren Atemübungen hilft, hat noch einen weiten Weg vor sich. Aktuell sucht das Projektteam nach Forschungsmitteln, um das Spiel weiterzuentwickeln und bestenfalls in den kommenden Jahren auf den Markt zu bringen. Bis dahin muss es aber noch ausführlich getestet werden – so wie viele andere Spiele, die medizinisch eingesetzt werden sollen.

"Inwieweit sich das Spiel positiv auf die Gesundheit von Betroffenen auswirkt, muss noch medizinisch geprüft werden", erklärt Tobias Kreienbühl, der das Spiel mitentwickelt hat. Die bisherigen Sitzungen stimmen das Team aber zuversichtlich – und auch Patientin Nicole gefällt es. "Sicher ist es gut, dass man die Übungen macht", sagt sie im TV-Beitrag. "Aber mit dem Spiel macht es mehr Spaß." (Florian Koch, 16.1.2023)