Im Gastblog präsentiert Kurt Tutschek ein Buch aus dem 19. Jahrhundert, dessen Collagen ihrer Zeit voraus waren.

Sie kennen den britischen Schriftsteller Evelyn Waugh (1903–1966) vielleicht als Verfasser des Romans "Wiedersehen mit Brideshead, Erinnerungen des Hauptmanns Charles Ryder", oder durch die Verfilmung mit Emma Thompson aus dem Jahr 2008. Doch Waugh war nicht nur Romancier, sondern auch leidenschaftlicher Sammler, der eine Vorliebe für viktorianische Dekorationsgegenstände und Möbel besaß. Glasvitrinen mit Fossilien, mit Nadeln aufgespannte Schmetterlinge, sogar ein präparierter Affe gehörten zum Inventar seines Domizils. 

In späteren Jahren wandte er sich verstärkt dem Sammeln von Büchern zu, etwa 3500 Bände umfasste sein Nachlass. Die Bücher wurden nach seinem Tod vom Harry Ransom Center in Austin, Texas, übernommen.
Bei der Durchsicht der Kollektion stach sofort ein Buch hervor, das zur Gänze aus merkwürdig gruseligen Collagen bestand. Mit dem Titel "Durenstein" versehen, enthält es 45 Collagen, die von John Bingley Garland gestaltet wurden. Da in vielen dieser Illustrationen die Darstellung von Blut eine große Rolle spielt, wurde das Buch bald als "Viktorianisches Blutbuch" bezeichnet. 

Durenstein!
Foto: Harry Ransom Center | gemeinfrei
Foto: Harry Ransom Center | gemeinfrei
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Der Kaufmann John Bingley Garland

John Bingley Garland (1791 bis 1875) war ein angesehener englischer Kaufmann und Politiker. Er verbrachte einige Jahre in Neufundland und kehrte anschließend nach England zurück, wo er bis zu seinem Tod das Familienunternehmen – den Handel mit Fischen – leitete.
Das Buch, das sich in Evelyn Waughs Besitz fand und von Garland gestaltet wurde, ist eine erstaunliche Sammlung von Bildern in Collagetechnik, die sich wohl aus der viktorianischen Vorliebe für Decoupage entwickelte. Garland war damit ein Vorläufer von Georges Braque und Pablo Picasso, die um 1910 die neuartige Kunstform der Collage aus Zeitungsauschnitten, Tapeten und anderen Materialien erfanden.

Garland verwendete für seine Bilder Reproduktionen europäischer Meisterwerke, vor allem religiöser Kunst, sowie bunte, günstig hergestellte Drucke von Früchten, Blüten, Insekten, Schlangen und Vögel, die er auf akribische Weise ausschnitt und zu diesen erstaunlichen, visionären Collagen verarbeitete. Der Raum zwischen den Bildern ist mit winziger handgeschriebener Schrift gefüllt, die Worte wirken wie eine abgehackte Predigt: "One! yet has larger bounties! to bestow! Joys! Powers! untasted! In a World like this, Powers!"  Darüber hinaus finden sich unter anderem Inschriften religiöser Texte, ägyptische Hieroglyphen, die Darstellung von Ruinen und natürlich die charakteristischen Blutstropfen.

Der Ruf des Buches beruht auf diesen karmesinroten Tropfen in roter Tusche, die an vielen Bildelementen hängen. Blut tropft von Traubentellern und Baumzweigen, Statuen und Skeletten. Von Kreuzen rinnt das Blut herab, Engel baumeln an blutigen Schärpen. Ein Strauß weißer Chrysanthemen wird besprenkelt. Heute wird diese Orgie aus roter Farbe als das Blut Christi interpretiert.

Foto: Harry Ransom Center | gemeinfrei
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Das Blutbuch von Waugh trägt eine Inschrift von John Bingley Garland an seine Tochter Amy, datiert auf den 1. September 1854: "Ein Vermächtnis, zu Lebzeiten für ihre zukünftige Prüfung durch ihren liebevollen Vater" ("A legacy left in his lifetime for her future examination by her affectionate father."). Das Album war vermutlich als Hochzeitsgeschenk gedacht.
Ein kleiner Hinweis auf Österreich fehlt auch nicht: die erste Seite des Buches enthält ein Inhaltsverzeichnis mit der Überschrift "Durenstein!", ein Hinweis auf Dürnstein, der niederösterreichischen Burg, in der Richard Löwenherz, der vom dritten Kreuzzug heimkehrte, gefangen gehalten wurde. Thema einiger Tafeln sind denn auch die Kämpfe, die Christen auf dem Weg zur Erlösung zu ertragen haben.

In jedem Fall ein außergewöhnliches Werk, das über die Website des Harry Ransom Centers der Universität von Texas frei zugänglich ist. (Kurt Tutschek, 14.1.2023)

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