Der ehemalige Google-CEO Eric Schmidt schreibt in seinem Gastkommentar darüber, wie wichtig es ist, dass die westlichen Demokratien bei der technologischen Entwicklung führend sind.

Das vergangene Jahr hatte einige alte Lehren über den Wettbewerb zwischen Großmächten für uns parat. Aber es hielt auch einige neue Lehren bereit, wie die Technologie das strategische Terrain verändert.

Es besteht kein Zweifel mehr an der von China, Russland und anderen autoritären Regimen ausgehenden Herausforderung für die internationale Rechtsordnung, den Respekt für die Souveränität anderer Staaten, demokratische Grundsätze und die Freiheit der Menschen. Diese Bedrohungen haben zugenommen, da China und Russland inzwischen neue Technologien nutzen, um ihre Bevölkerungen zu überwachen, Informationen zu manipulieren und Datenströme zu steuern.

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China zeigt, was es bedeutet, wenn Technologien nicht von Demokratien entwickelt, eingesetzt und reguliert werden.
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Wachsende geopolitische Spannungen gehen mit zunehmenden Übergriffen disruptiver Technologien auf alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens einher. Die Auswirkungen sind klar: Die Technologieplattformen der Zukunft sind das neue Terrain des strategischen Wettbewerbs. Die USA haben daher ein zentrales Interesse daran, sicherzustellen, dass diese Technologien von Demokratien entwickelt, gebaut, eingesetzt und reguliert werden.

Digital vernetzter Krieg

Im Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion – mit beträchtlicher Unterstützung anderer Demokratien – kristallisiert sich heraus, wie die Technologie die Geopolitik verändert. Ein hochgradig vernetztes, technologieaffines Land fand sich rasch zusammen gegen einen viel größeren Feind, der zunächst über einen überwältigenden militärischen Vorteil zu verfügen schien. Die Ukraine ist nun dabei, den weltersten digital vernetzten Krieg zu gewinnen, weil sie Innovationen im Bereich der Software nutzt und in größtmöglichem Umfang Open-Source-Technologie und dezentralisierte Operationen einsetzt. Die Bündelung aller ihrer technologischen Fähigkeiten ermöglicht ein ununterbrochener Internetzugang.

"Chinas Fortschritte in den Bereichen Fintech, E-Commerce und bei anderen Plattformen bieten eine Vorschau darauf, wie umkämpft die Zukunft sein wird."

Die Ukraine bietet zudem einen flüchtigen Blick darauf, wie eine technologiegestützte Demokratie aussehen könnte: Cloudgestützte Dienste versetzen die Regierung in die Lage, sich direkt mit den Bürgerinnen und Bürgern zu vernetzen, und zwar überwiegend durch alltägliche Geräte wie private Telefone mit integrierter Verschlüsselung und Datenschutz-Software.

Große und kleine Unternehmen aus der demokratischen Welt auf beiden Seiten des Atlantiks unterstützen die technologisch ausgerichtete Transformation der Ukraine und haben sich dabei selbst als wichtige strategische Akteure erwiesen. Sie haben wichtige ukrainische Regierungs- und Finanzdaten durch Verschieben in die Cloud frühzeitig geschützt, sie warnten vor russischen Cyber-Angriffen und boten diesbezüglich Hilfestellung an, und sie halfen mit, die Ukrainerinnen und Ukrainer in Kontakt miteinander und an das globale Internet angeschlossen zu halten, damit die Welt von Russlands Lügen, Kriegsverbrechen und militärischen Rückschlägen erfuhr. Ohne dieses breitere Ökosystem und den Zugriff zu Technologieplattformen hätte der Konflikt womöglich einen ganz anderen Verlauf genommen.

Eine Welt des systematischen Zwangs

Aber nun stellen Sie sich eine Zukunft vor, in der autoritäre Staaten die Technologien und Unternehmen kontrollieren, die den Netzwerkzugang beaufsichtigen, Netzwerke vor Cyber-Bedrohungen schützen, wichtige digitale Infrastruktur errichten, festlegen, welche Nachrichten zensiert werden sollen, und den Fluss sensibler Daten steuern. Das wäre eine Welt des systematischen Zwangs und der Eingriffe in die Privatsphäre der Menschen, in der grundlegende Schutzmechanismen für die freie Meinungsäußerung ausgelöscht wurden.

Wir sollten Chinas Erfolg beim Export integrierter Netzwerklösungen, die Hardware, Software und Services für Kunden in aller Welt bündeln, ernst nehmen. Diese erweitern den Einfluss der chinesischen Regierung und verschaffen ihr einen Vorteil gegenüber den USA und anderen Demokratien –nicht nur im Technologiewettrennen, sondern auch im breiteren geopolitischen Konkurrenzkampf. Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass die Vorteile der westlichen Unternehmen in Bereichen wie Cloud-Technologie, Rechenzentren und sozialen Medien von Natur aus Bestand haben werden.

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Die Vorteile der westlichen Unternehmen in Bereichen wie Cloud-Technologie und sozialen Medien müssen nicht dauerhaft bleiben – siehe der Aufstieg von Tiktok.
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Tiktoks kometenhafter Aufstieg und die dadurch bedingten nationalen Sicherheitsbedenken sind ein Musterbeispiel hierfür. Chinas Fortschritte in den Bereichen Fintech, E-Commerce und bei anderen Plattformen – auf Netzwerken, die von in China ansässigen Unternehmen verwaltet und mit in China oder in seinem Schatten hergestellter Hardware betrieben werden – bieten eine Vorschau darauf, wie umkämpft die Zukunft sein wird.

"Wir müssen in die Mittel der Demokratie vertrauen, in disruptiven Sektoren ein Gleichgewicht zwischen Innovation, Regulierung und anderen nationalen Interessen zu finden."

Für die Demokratien der Welt sind die politischen Herausforderungen klar. Erstens müssen wir unseren Ansatz der Nichteinmischung bei der technologischen Entwicklung aufgeben. Die oben beschriebenen gefährlichen Entwicklungen fielen in eine Zeit, in der die USA in der Technologiestrategie einen Laissez-faire-Ansatz verfolgten. In zentralen Bereichen der Hardware-, Software- und Netzwerkentwicklung mussten die USA und ihre Partner von einer defensiven Position aus reagieren. Dies war der Fall bei der US-geführten Kampagne gegen Huaweis Pioniervorteil bei 5G, der Investitionsspritze im Volumen von 52,7 Milliarden US-Dollar für die US-Halbleiterproduktion des Chips-Act und dem verspäteten Bemühen der USA zur Entwicklung einer umfassenden nationalen KI-Strategie.

Zweitens sollten die USA und ihre Partner die "nächsten Chips" ermitteln und die staatliche Ordnungspolitik entsprechend ausrichten. Wir brauchen ein reproduzierbares öffentlich-privates Modell zur Entwicklung und Umsetzung einer langfristigen nationalen Technologiestrategie. Die politischen und wirtschaftlichen Risiken hoher öffentlicher Investitionen in bestimmten Sektoren verblassen im Vergleich zu den Risiken, die damit verbunden sind, einem strategischen Rivalen zentrale technoindustrielle Funktionen zu überlassen oder diese der akuten Gefährdung durch Engpässe in der Lieferkette auszusetzen.

Mehr Aufmerksamkeit, höhere Investitionen

Die USA und ihre Verbündeten bewegen sich in die richtige Richtung, indem sie eine verstärkte Förderung und Verarbeitung der für die Produktion von Zukunftstechnologien entscheidenden Mineralien unterstützen. Doch könnte es noch weitere Hardware-Fertigungsbranchen geben, die mehr Aufmerksamkeit und höhere Investitionen verdienen. Zum Beispiel sollte der Westen sehr besorgt sein über Chinas Dominanz in den Wertschöpfungsketten für Batterien und Photovoltaik.

Drittens müssen die USA und ihre Partner die nächsten "Technologie-Offsets" ermitteln und die Entwicklung und den Einsatz dieser Technologien beschleunigen. Zu versuchen, die Fertigungsbasis für jede Technologie in demokratischen Ländern zu replizieren ist unrealistisch und vermutlich unbezahlbar. Stattdessen sollten die USA und ihre Verbündeten ihre Investitionen in jene Technologien koordinieren, die die nächste Welle der wirtschaftlichen Entwicklung antreiben werden. Ich betrachte die Biopharmazie und andere fortschrittliche Fertigungstechniken als aufregende Bereiche, in denen die konkurrenzfähigsten Pionierunternehmen einen großen Vorsprung erzielen können. In gleicher Weise könnten KI-bedingte Durchbrüche bei der Fusionsenergie einen völlig neuen Weg hin zur Cleantech darstellen. Das wäre von enormer strategischer Tragweite.

Strategische Sackgasse?

Und schließlich müssen sich die Demokratien ihren Optimismus in Bezug auf die Fähigkeit neuer Technologien bewahren, uns unvorhergesehene Chancen und Vorteile zu eröffnen. Ich mache mir Sorgen, dass wir uns durch übertriebene Regulierung selbst um eine führende Wettbewerbsposition bringen und in eine strategische Sackgasse manövrieren. Niemand bestreitet, dass leistungsstarke Technologieplattformen tiefgreifende ethische, wirtschaftliche und politische Herausforderungen aufwerfen und dass diese systemische – und nicht ad hoc formulierte – Antworten erfordern. Doch wir müssen in die Mittel der Demokratie vertrauen, in disruptiven Sektoren ein Gleichgewicht zwischen Innovation, Regulierung und anderen nationalen Interessen zu finden.

Die Zivilgesellschaft, Regierungen und Unternehmen der demokratischen Welt sind sehr wohl imstande, einen ausgewogenen Ansatz für den Umgang mit diesen Technologien zu finden. Autoritäre Staaten dagegen verfügen weder über gleichwertige Steuerungskapazitäten noch über Kontrollmechanismen, die verhindern, dass der Staat Technologieplattformen in einer Weise nutzt, die gegen die Menschenrechte verstößt – sei es, um seinen geopolitischen Einfluss auszuweiten, sei es, um seine Feinde zu untergraben. Den Plattformwettbewerb zu gewinnen wird die komplizierten Debatten innerhalb demokratischer Gesellschaften über den Umgang mit der Technologie nicht lösen, aber es ist eine Grundvoraussetzung, um eine solche Debatte überhaupt zu führen.

Technologische Vorreiterrolle

Wir müssen uns an das Aufkommen neuer Akteure im Bereich der technologischen Innovation und der Finanzierung anpassen – vom Crowdfunding bis hin zu Wagniskapital. Wir müssen uns an die neuen Realitäten des strategischen Wettbewerbs anpassen und dabei akzeptieren, dass die Technologielieferketten kreuz und quer durch die ganze Welt verlaufen werden und dass Gleiches für die Netzwerke der Universitäten, Wissenschafterinnen und Wissenschafter und Unternehmen gilt, die – wenn auch in sich wandelnden Mustern – die Zukunft aufbauen.

Diese Veränderungen lassen sich organisieren und nutzen, um sicherzustellen, dass die USA und andere Demokratien sich ihre technologische Vorreiterrolle bewahren. Doch müssen die Demokratien die Lehren des Jahres 2022 beachten, wenn die Welt eine Wahl in der Frage haben soll, welche Plattformen sie nutzen möchte, um die Zukunft zu errichten. (Eric Schmidt, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 13.1.2023)