Als das Flugzeug auf der Landebahn von Mekelle aufsetzt, verwandelt sich die Kabine in einen Kessel roher Gefühle: Frauen stoßen schrille Trillerschreie aus, Männer klopfen sich freudestrahlend auf die Schultern, eine Mutter von zwei Kindern bricht in unkontrolliertes Schluchzen aus. Sie habe ihre Eltern seit drei Jahren nicht mehr gesehen und vor zwei Wochen erstmals wieder mit ihnen gesprochen, sagt die junge Frau: Zum Glück seien sie wohlauf, nur einer ihrer Cousins habe den Krieg nicht überlebt.

Mehr als zwei Jahre lang war Äthiopiens Tigray-Provinz von der Außenwelt abgeschottet – die Grenzen verriegelt, das Telefonnetz gekappt, von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Bis die Zentralregierung mit der Volksbefreiungsfront Tigray (TPLF) Anfang November in Südafrika einen Friedensvertrag schloss: Seitdem sollten die Kämpfe beendet und die Grenzen geöffnet, und die Provinz sollte wieder Teil der äthiopischen Bundesrepublik sein.

Keine Medikamente

Vor zehn Tagen nahm auch die Ethiopian Airlines ihre Flüge in die Provinzhauptstadt Mekelle wieder auf. Vier Tage vor dem orthodoxen Weihnachtsfest ist der Andrang dermaßen stark, dass die Fluglinie statt täglich einer Maschine gleich drei hintereinander einsetzen muss.

Geschäft in Mekelle.
Foto: Johannes Dieterich

"Du bist der Erste, der seit über einem Jahr hier auftaucht", sagt Samuel bei der Begrüßung am Flughafen Mekelles: Fünf Tage lang werde ich in der Provinzhauptstadt keine andere weiße Person sehen. Mein Freund von früheren Besuchen erzählt, dass seine 41-jährige Frau vor wenigen Monaten gestorben sei: an einer Entzündung, die mit Antibiotika ohne weiteres hätte geheilt werden können. Wegen der Blockade gab es in Tigray jedoch keine Medikamente mehr – jetzt muss Samuel seine 16- und zehnjährigen Söhne allein aufziehen.

Mekelle wirkt wie ein Schatten seiner selbst. Sogar während ihrer Besetzung durch äthiopische Regierungstruppen war die eigentlich eine knappe halbe Million Einwohner zählende Provinzhauptstadt belebter. Heute sitzen Verkäuferinnen oder Verkäufer vor fast leeren Geschäften und starren mit ebenso leerem Blick in die Ferne. Auf den Straßen sind höchstens mit Passagieren vollgestopfte dreirädrige Tuk-Tuks, klapprige Minibusse oder Eselgespanne auszumachen. Ein Liter Benzin kostet derzeit mehr als vier Euro: für fast jeden unerschwinglich.

Die meisten Banken sind noch immer geschlossen – die wenigen geöffneten geben ihren Kunden pro Woche höchstens 1.500 Birr aus, weniger als 30 Euro. Die längsten Schlangen haben sich vor den Läden für Telefonkarten gebildet: Weil zwei Jahre lang kein Handy funktionierte, sind die alten Karten abgelaufen. Gleich hinter dem Hotel Northern Star werden Nahrungsmittel verteilt, die das Welternährungsprogramm (WFP) seit Dezember wieder in die Provinz karrt. Zuvor waren selbst die Hilfskonvois blockiert.

Unterernährte Kinder

Täglich kämen mehrere unterernährte Kinder in seine Station, berichtet ein Arzt in der Pädiatrie des Ayder-Hospitals: Doch das wirkliche Problem seien diejenigen, die nicht auftauchen. Ausgehungerte Kinder in ländlichen Regionen, die in Ermangelung an Transportmitteln und Geld nie in ein Spital kommen. In ihrem Dorf seien schon mehrere Kinder verhungert, berichtet die Mutter des sechs Monate alten Getenet: Dessen Haut ist runzlig wie die eines Greises.

Am Busbahnhof.
Foto: Johannes Dieterich

Fast der gesamte Norden und Westen Tigrays ist weiterhin von eritreischen Truppen besetzt, die Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed vor zwei Jahren zur Unterstützung seiner Invasion gerufen hatte.

Bei den Friedensgesprächen in Südafrika war Eritrea nicht vertreten: Das ließ die Befürchtung aufkommen, der eritreische Diktator Isaias Afwerki könne zum Friedensverderber werden. Tatsächlich befinden sich seine Truppen auch zwei Monate nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags noch immer in Tigray und werden zahlreicher Massaker, Vergewaltigungen und Plünderungen beschuldigt. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags seien schon mehr als 4.000 Menschen getötet worden, heißt es in Mekelle. In einer der beiden Fernsehstationen Tigrays sind Bilder von einer Karawane vollbepackter Kamele in den Straßen der Provinzstadt Shires zu sehen. Sie transportierten Beutegut nach Eritrea ab, sagt der Sprecher: von Baumaterialien über Möbel bis zu Töpfen und Löffeln. Afwerkis Absicht sei die "totale Zerstörung" Tigrays, kommentierte der politische Analyst Muez Gidey das Vorgehen.

Bei der Vereinbarung von Pretoria handele es sich um keinen Friedensvertrag, sondern um eine Kapitulationserklärung, fährt Muez fort: Der TPLF sei nichts anderes übrig geblieben, als das Handtuch zu werfen. Der strategische Kopf der Verteidigungskräfte Tigrays (TDF) – der schon aus früheren Kriegen legendäre General Tsadkan Gebretensae – rechnet damit, dass allein in den letzten zweieinhalb Kriegsmonaten mehr als 150.000 Soldaten gefallen sind. Noch heute seien die Schlachtfelder von den Leichnamen nicht beerdigter Gefallener übersät.

Straßenszene.
Foto: Johannes Dieterich

Tsadkan ist kein kriegsgeiler Panzerschädel: Der knapp 70-Jährige sitzt im Trainingsanzug auf der Terrasse seiner Villa in einem schmucken Stadtteil von Mekelle, bietet seinem Gast äthiopischen Kaffee an und spricht mit sanfter Stimme. Die TDF habe zu den Waffen gegriffen, um die Bevölkerung zu schützen, sagt der General: Welchen Sinn hätte es gehabt, dafür die Bevölkerung zu opfern? Schließlich hätten die Gegner keinen herkömmlichen, sondern einen "totalen Krieg" geführt, von dem die Zivilbevölkerung nicht ausgeschlossen blieb. In Mekelle kursieren Zahlen, wonach in den vergangenen zwei Jahren eine der gut sieben Millionen Tigray ihr Leben ließen.

Kooperation mit Addis

Tsadkan ist überzeugt davon, dass inzwischen auch Premierminister Abiy den Frieden brauche: Ohne ihn werde sein wirtschaftlich schwer angeschlagenes Land nicht wieder auf die Beine kommen. "Wir sind zur Kooperation mit Abiy bereit", sagt der Vier-Sterne-General. Vor eineinhalb Jahren hatte TPLF-Sprecher Getachew Reda noch jede Verständigung mit dem kompromittierten Friedensnobelpreisträger ausgeschlossen. "Wir haben jedes Vertrauen in ihn verloren", so Getachew damals. Heute setzt er alle Hoffnung auf Abiy – vor allem wenn es darum geht, die Eritreer aus Tigray zu komplimentieren. Selbst nach deren Abzug ist aber nicht geklärt, ob Tigray Teil der äthiopischen Republik bleibte. Die Verfassung räumt jeder Provinz ausdrücklich das Recht auf Abspaltung ein.

Kinfe Hadush, Sprecher der oppositionellen "Partei der Dritten Revolution in Tigray", glaubt zu wissen, wie ein Volksentscheid ausgehen würde: "Mehr als 95 Prozent werden für die Unabhängigkeit stimmen." Vermutlich ist das nicht übertrieben: Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre kann sich kaum ein Tigray noch ein Zusammenleben mit "den Äthiopiern" vorstellen. Noch schwieriger könnte es für die Bevölkerung aber danach werden: Die auf allen Seiten von Feinden umgebene Provinz müsste sich auf eine erneute Blockade gefasst machen – nur eben ohne Ende.

Bereits nach dem orthodoxen Weihnachtsfest untersagte die Regierung in Addis Abeba allen zwischen 18 und 50 Jahre alten Tigray die "Einreise" nach Addis Abeba: als ob man auf das Minderheitenvolk (gut fünf Prozent der 120 Millionen Äthiopier) gar keinen Wert mehr lege. In Mekelle ist abzulesen, wie Tigray in zehn Jahren aussehen könnte: eine um Jahrzehnte zurückgeworfene Provinz, die zwar mit knapper Not den Krieg überlebte, aber vollends am Frieden scheiterte. (Johannes Dieterich aus Mekelle, 13.1.2023)