Eine Metropole ist Wijk aan Zee wahrlich nicht. 2165 Einwohner zählt die niederländische Ortschaft an der Nordsee, die rund 20 Kilometer Luftlinie von Amsterdam entfernt liegt. Im Sommer bei Surfern beliebt, wird es im Winter in Wijk ganz besonders ruhig, sieht man einmal von der steifen Meeresbrise ab, die hier an der Küste herrscht.
Nun ist äußere Ruhe für ein Schachturnier natürlich nicht die schlechteste Voraussetzung. Und so hat es wohl schon seine Richtigkeit, dass Wijk aan Zee jedes Jahr in der zweiten Jännerhälfte für etwas mehr als zwei Wochen zum Nabel der Schachwelt wird. Das "Wimbledon des Schachsports" wird das Turnier, das heuer bereits ins 85. Jahr seines Bestehens geht, gerne genannt. Und der Vergleich hat etwas für sich: Hier wie da steht Tradition im Vordergrund, da wie dort bringt ein Sieg höchstes Prestige und garantiert einen Ehrenplatz in den Annalen der jeweiligen Sportart.
Kein Zufall
Dass das wichtigste Schachturnier der Welt ausgerechnet in der nordholländischen Provinz ausgetragen wird, ist übrigens kein Zufall. Die ganz in der Nähe ansässige niederländische Stahlindustrie sorgte über Jahrzehnte für die nötige Finanzierung – und tut es indirekt auch heute noch. Nur dass das einst Hoogovens und später Corus geheißene Turnier seit 2011 unter dem Namen Tata Steel Chess firmiert und damit dem Namen jenes Montanunternehmens mit Sitz Mumbai, Indien, alle Ehre macht, für das auch die Hochöfen in den Niederlanden mittlerweile brennen.
Damit wäre auch schon einer der Gründe benannt, warum im Tata Steel Masters, dem A-Turnier zu Wijk aan Zee, regelmäßig indische Großmeister an den Start gehen, in diesem Jahr deren sogar gleich drei.
Indische Teenager
An Protektion wird allerdings kaum denken, wer sich kurz den schachlichen Lebenslauf der Herren Dommaraju Gukesh (16), Rameshbabu Praggnanandhaa (17) und Arjun Erigaisi (19) zu Gemüte führt, die heuer Teil des 14-köpfigen Teilnehmerfeldes sind. Alle drei werden zu Recht als potenzielle zukünftige Weltmeister gehandelt. Gukesh, der bei der Schacholympiade im vergangenen Jahr am ersten Brett eine famose Siegesserie gegen stärkste Gegnerschaft hinlegte, rangiert mit seinen erst 16 Jahren gar schon auf Platz 24 der Weltrangliste. Gemeinsam mit dem usbekischen Schnellschachweltmeister von 2021, Nodirbek Abdusattorow (18) und Deutschlands Hoffnung Vincent Keymer (19), der sich kürzlich zum Schnellschach-Vizeweltmeister kürte, zeichnet das indische Trio dafür verantwortlich, dass Wijk aan Zee 2023 das jüngste Teilnehmerfeld seiner Geschichte aufweist – woran auch die Präsenz von Turniersenior Lewon Aronjan (40) nichts zu ändern vermag.
Norwegischer Solitär
Noch werden die jungen Shootingstars des Spiels aber von einem Mann überstrahlt, der – man glaubt es kaum – auch schon 32 Lenze zählt: Schachweltmeister Magnus Carlsen blieb in Wijk aan Zee bereits achtmal siegreich, öfter als jeder andere in der Geschichte des Turniers. Ab Samstag geht der Norweger nach seinem Doppelsieg bei der Blitz- und Schnellschach-WM Ende 2022 über 13 lange Runden auf seinen neunten Sieg beim Tata Steel Chess los. Und Carlsen, der es niemandem mehr beweisen muss, scheint doch nach wie vor bis in die Haarspitzen motiviert zu sein.
Nur auf den WM-Titel im klassischen Schach legt die Nummer eins der Weltrangliste keinen Wert mehr. Im April dieses Jahres wird zwischen dem Russen Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren aus China Carlsens Nachfolger bestimmt. Umso wichtiger dürfte es dem Noch-Weltmeister sein, in seinem Wohnzimmer Wijk aan Zee nicht nur den fünf jungen Wilden, sondern auch der Nummer zwei der Welt wie des Turniers, Ding Liren (30), ein weiteres Mal zu zeigen, wer im klassischen Schach Chef im Ring ist.
Zelebrierte Langsamkeit
Aber egal, ob Magnus Carlsen noch einmal triumphiert, einem der fünf Teenager die Sensation gelingt oder Lokalmatador Anish Giri (28) endlich seinen lange erhofften ersten Heimsieg feiert: Von 14. bis 29. Jänner wird die Schachwelt wieder einmal jenes letzte verbliebene Topturnier ihres Sports feiern, bei dem weder Mangel an Bedenkzeit noch an Spielrunden herrscht.
Mit seiner zelebrierten Langsamkeit bildet Wijk aan Zee einen wohltuenden Kontrast zur Inflation der Onlineturniere mit kurzer und kürzester Bedenkzeit, die während der Pandemie ins Kraut schossen. Und beweist damit, dass das klassische Schach nach wie vor höchst lebendig ist – so sicher, wie an der Nordsee der Wind bläst. (Anatol Vitouch, 13.1.2023)