Gáspár Miklós Tamás spricht während einer Solidaritätskundgebung für die ungarischen Tageszeitung Nepszabadsag in Budapest. Die linksliberale Zeitung war bis zum 8. Oktober 2016 eine der größten Zeitungen Ungarns – dann kaufte ein regierungsnahes Unternehmen die Mehrheit an dem Verlag und stellte das Blatt ohne Vorwarnung ein.

Foto: AP/Zoltan Balogh

Der ungarische Philosoph, Publizist und Wendezeit-Politiker Gáspár Miklós Tamás ist nach langer Krankheit im Alter von 74 Jahren gestorben. Dies berichtete die staatliche Nachrichtenagentur MTI am Sonntagabend unter Berufung auf die Familie des Verstorbenen.

Tamás war eine prägende Erscheinung der ungarischen Dissidenten-Szene im Kommunismus sowie ein Mitgestalter der demokratischen Wende 1989/90. Er war Mitbegründer und regelmäßiger Autor der im Untergrund herausgegebenen Zeitung "Beszelö" (Sprechzimmer) sowie Mitbegründer des liberalen Bundes Freier Demokraten (SZDSZ), dessen Geschäftsführer er von 1988 bis 1990 war und dem er im Jahr 2000 den Rücken kehrte. Von 1990 bis 1994 war er Abgeordneter im ersten frei gewählten Parlament Ungarns.

Aus Rumänien vertrieben

Tamás wurde 1948 in eine jüdisch-ungarische Familie im rumänischen Cluj geboren. 1978 siedelte er nach Schikanen der rumänischen Geheimpolizei Securitate nach Ungarn um. Doch auch dort erhielt er wegen seiner Tätigkeit für "Beszelö" Berufsverbot. Von 1991 an war er am Philosophischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) tätig.

In den späten 1990er-Jahren entwickelte er eine radikale Kapitalismuskritik, 2001 beteiligte er sich an der Gründung der ungarischen Attac-Bewegung. Seine Partei Zöld baloldal ("Grüne Linke"), deren Vorsitzender er 2010 wurde, spielte eine untergeordnete Rolle. Bei den Parlamentswahlen 2010 erhielt sie 0,03 Prozent der Stimmen. 2011 wurde Tamás nach der Machtübernahme durch den rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orban vorzeitig in die Pension geschickt.

Der Aufklärung verpflichtet

Als Philosoph reflektierte Tamás seinen Standpunkt immer wieder neu. Vom Anarcho-Syndikalismus der frühen Jahre wandte er sich in der Wendezeit einem konservativen Liberalismus zu. Von den 2000er-Jahren bis zu seinem Tod vertrat er einen undogmatischen Marxismus und Ökologismus, wobei er dem Denken und der Rationalität der französischen Aufklärung verpflichtet blieb. Zugleich warnte er schon früh vor der Wirkungsmacht rechtspopulistischer und post-faschistischer Politik im globalen Maßstab.

Auf deutsch erschien von Tamás 2015 der Essayband "Kommunismus nach 1989: Beiträge zu Klassentheorie, Realsozialismus, Osteuropa". (red, APA, 16.1.2023)