Einem Wagner-Deserteur ist die Flucht aus Russland in den hohen Norden Norwegens gelungen.

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Es waren Spuren im Schnee, die die russischen Grenzwächter an der arktischen Grenze in der nordwestrussischen Oblast Murmansk auf die Fährte von Andrei Medwedew brachten. Mit Spürhunden, Schneemobilen und Scheinwerfern versuchten sie ihn aufzuspüren. Auch einige Schüsse sollen abgefeuert worden sein.

"Ich warf mein Handy in den Schnee, drehte mich um und rannte, rannte, rannte", wird Medwedew später der Menschenrechtsplattform Gulagu.net erzählen. Denn er schaffte es rechtzeitig auf die andere Seite des Stacheldrahtzauns und über den zugefrorenen Fluss Pasvikelva nach Norwegen.

Dort klopfte der 26-Jährige laut norwegischen Polizeiangaben an die Tür des nächstgelegenen Wohnhauses und bat um Hilfe. Wenig später nahm ihn die Polizei, die bereits Hinweise von russischer Seite erhalten hatte, wegen illegalen Übertritts in Gewahrsam. Damit endete am frühen Freitagmorgen die Flucht Medwedews, die im Herbst des Vorjahrs in der Ukraine begonnen hatte.

Berüchtigte Söldnertruppe

Medwedew ist kein gewöhnlicher russischer Bürger – sondern nach unabhängigen russischen Medienangaben ("Mediazona", "The Insider") ein ehemaliger vorbestrafter Soldat, der von der berüchtigten Söldnertruppe Wagner rekrutiert wurde, um ab Juli 2022 im russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu kämpfen.

Laut eigenen Angaben im Gespräch mit Gulagu.net hatte Medwedew einen viermonatigen Vertrag mit Wagner unterschrieben, den er nach dessen Ablauf keinesfalls verlängern wollte: Zu sehr habe ihn die Realität des Krieges schockiert. Statt wie angekündigt lediglich strategische Ziele zu bewachen, wurde die Einheit, die Medwedew kommandieren sollte, sofort an die Front geschickt. Nur vier von dreißig hätten den ersten Einsatz überlebt. Ihm sei schnell bewusst geworden, wie "sinnlos der Krieg, dumm die Befehle und gesetzlos die militärische Führung" seien, sagte Medwedew im Dezember zu Gulagu.net.

In dem Videointerview schilderte er auch, dass die Wagner-Organisation seinen Vertrag ohne Rücksprache auf sechs bzw. acht Monate verlängern wollte. Medwedew wagte und schaffte nach eigenen Angaben die Flucht aus der Ukraine und tauchte in Russland unter. Demnach wurde er fortan von Sicherheitsdiensten gesucht und fürchtete um sein Leben. Dazu hatte er seinen eigenen Schilderungen zufolge wohl auch allen Grund: In mehreren Interviews mit kritischen russischen Medien behauptete Medwedew, in mindestens zehn Fällen bezeugen zu können, dass die Wagner-Einheiten russische Kriegsverweigerer ("refuseniks") und Deserteure sowie ukrainische Kriegsgefangene hingerichtet hätten – nach Völkerrecht eindeutig Kriegsverbrechen. Außerdem berichtet Medwedew, dass die Wagner-Gruppe gefallene Kämpfer vergrabe und als vermisst melde, um sich Entschädigungszahlungen an deren Familien zu ersparen.

All das will Medwedew laut einem aktuellen Gulagu.net-Interview nun Sonderermittlern in Norwegen erzählen. Er hat in Norwegen Asyl beantragt und soll aus Sicherheitsgründen an einen geheimen Ort in Oslo gebracht worden sein. Das bestätigt auch die norwegische Polizei. In Norwegen wird Medwedew nun von einem Anwalt vertreten.

Amnesty: Kein Automatismus für Asyl

Unklar ist jedoch, wie realistisch ein positiver Asylbescheid für Medwedew ist. John Peder Egenæs, Generalsekretär von Amnesty International in Norwegen, sagt im Interview mit dem Sender NRK, dass es keinen Automatismus für Asyl gebe. Zuerst müssten die norwegischen Behörden herausfinden, ob seine Geschichte stimmt. "Aber er kann nicht nach Russland zurückgeschickt werden", sagt Egenæs – denn Deserteuren drohe eine extrem brutale Strafe. In erster Linie gehe es jetzt darum zu prüfen, ob Medwedew, der an Kriegshandlungen teilgenommen hat, selbst Kriegsverbrechen begangen haben könnte.

Über sein Leben vor dem Ukraine-Krieg ist bisher wenig bekannt. Medwedew ist nach eigenen Angaben als Waise in der russischen Region Tomsk aufgewachsen. Dass er Söldner bei Wagner war, hat am Montag auch der Pressedienst von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin auf Nachfrage der Zeitung "Aftenposten" bestätigt. Prigoschin behauptet zudem allerdings, dass Medwedew die norwegische Staatsbürgerschaft besitzt. Dafür liegen allerdings keinerlei Beweise oder eine Bestätigung aus Oslo vor.

Wagner warnt Norwegen vor Medwedew

Laut Prigoschins Pressedienst ist Medwedew von russischen Diensten gesucht worden und ein "sehr gefährlicher Mann", Norwegen müsse sich hüten. Der Wagner-Organisation lägen schwerwiegende Informationen gegen Medwedew vor, wonach er Kriegsgefangene misshandelt habe. Auch dafür wurden allerdings keine Beweise vorgelegt. (Flora Mory, 17.1.2023)