Wien bei Nacht lernte ein Gast aus den Bundesländern deutlich besser kennen, als es geplant war. Deshalb muss er sich nun wegen versuchter schwerer Körperverletzung verantworten.

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Wien – Dass ein Strafverfahren wegen versuchter schwerer Körperverletzung mit einer Diversion endet, zählt im Gerichtsalltag eher zu den Ausnahmen. Vor allem dann, wenn ein Angeklagter wie der 24 Jahre alte Herr K., der vor Richterin Danja Petschniker sitzt, bereits vor fünf Jahren einmal mit der vorläufigen Einstellung eines Verfahrens davongekommen ist. Die Geschichte zeigt aber auch, wie wichtig es ist, sich ein genaues Bild des Falles und des Angeklagten zu machen, da erst dadurch eine Entscheidung nachvollziehbar wird.

Der Österreicher war im September aus einem anderen Bundesland mit einer Bekannten nach Wien zu einem Konzert gekommen. "Wir sind dann um drei heimgegangen und sind dem Herrn, der sich Martin nannte, begegnet", erinnert sich der Lehrling, der sich vollinhaltlich schuldig bekennt. Da Martin schwer betrunken gewesen sei und K.s Bekannte eine "soziale Ader" hatte, überredete die Frau den Angeklagten, den eigentlich Unbekannten mit dem Auto heimzubringen.

Mehrstündige Odyssee durch Bundeshauptstadt

Das erwies sich trotz Navis als schwieriger, als gedacht. "Er hat zuerst gesagt, er wohnt in der Meidlinger Hauptstraße, dann nur mehr irgendwo anders in Meidling, und schließlich behauptete er, er wisse nicht mehr, wo er wohne. " Die Irrfahrt dauerte mehrere Stunden, dann wollte Martin auf einem Parkplatz bei einer Tankstelle aussteigen, um zu feiern, schildert der Angeklagte weiter. K.s Bekannte folgte, um weiter Party zu machen, der blieb geduldig und wartete, um einen neuerlichen Versuch zu starten, den Unbekannten, der nur schlecht Englisch sprach, heimzubringen.

Es folgten weitere eineinhalb Stunden Odyssee durch die Bundeshauptstadt, die bereits angespannte Stimmung eskalierte weiter, als der undankbare betrunkene Beifahrer ausfällig wurde, nachdem K. sich weigerte, gegen eine Einbahn zu fahren. "Irgendwann bin ich dann draufgekommen, dass er mich die ganze Zeit verarscht hat, weil er nicht einmal mehr auf die Straßennamen geachtet hat, sondern orientierungslos einfach irgendwelche Richtungsangaben getätigt hat."

Übelkeit im Automobil

Zu schlechter Letzt wurde Martin dann auch noch übel. "Ich habe angehalten und ihm den Kopf aus dem Fenster gehalten, ein wenig ist aber auch ins Auto gekommen", meint der Angeklagte. Unmittelbar danach habe der Beifahrer gemault, warum er ihm den Kopf hinausgehalten habe. "Ich bin noch ruhig geblieben und habe gesagt: 'Ich wollte einfach nicht, dass du in mein Auto speibst.' Darauf hat er gesagt: 'Wovon sprichst du?'"

Mindestens drei Mal habe er bei Kreuzungen angehalten und Martin aufgefordert, das Auto zu verlassen. Der weigerte sich, sondern stänkerte weiter. Da setzte bei K. ein seit seiner Kindheit bestehendes Problem ein, das er seit fünf Jahren mit Psychotherapie und Anti-Aggressions-Training behandelt: Er verlor die Nerven und wurde wütend. Während der Fahrt schlug er dem Beifahrer ins Gesicht, der merkte das nach Darstellung des Angeklagten aber gar nicht, ebenso wenig die im Fond sitzende Bekannte.

Irgendwann nach stundenlanger Fahrt zeigte sich Martin schließlich doch bereit auszusteigen. "Ich habe ihm noch wie einem alten Mann aus dem Auto geholfen, habe ihm seinen Mantel angezogen und die Sachen, die wir ihm gekauft haben, Kaffee, Wodka und Zigaretten, gegeben." K. entschuldigte sich nochmals für den Angriff im Wagen, worauf Martin im Stehen wieder zu diskutieren begann.

"Habe aufgehört, als ich das Blut bemerkte"

Kurz darauf verlor der Angeklagte endgültig die Kontrolle. "Ab einem gewissen Punkt kann ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Alles wird langsamer und der Blick tunnelartig", beschreibt er die Symptome der unkontrollierten Aggression. Am Tatmorgen versetzte er Martin zunächst einen weiteren Faustschlag ins Gesicht, der das Opfer zu Boden brachte, auch dort prügelte K. auf ihn ein. "Ich habe aufgehört, als ich das Blut bemerkte und meine Hand zu schmerzen begann", sagt er.

Durch die Rufe der Passanten sei er aus seinem Schockzustand aufgewacht und habe selbst Rettung und Polizei alarmiert. Der stark blutende Verletzte zog es aber vor, sich zu absentieren – rund 150 Meter weit versuchten Zeugen noch, ihn zu überzeugen, sich ins Spital bringen zu lassen, was Martin verweigerte. Er dürfte auch nie ein Krankenhaus aufgesucht haben, da die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft keinen passenden Patienten in einer Wiener Ambulanz lieferten – das Opfer bleibt also ein Unbekannter.

Wien-Besuch als "größter Fehler"

Er mache sich seit damals Vorwürfe und hoffe, dass er den Mann nicht schwer verletzt habe, sagt der Angeklagte der Richterin am Ende. "Das war der größte Fehler meines Lebens, nach Wien zu kommen – und überhaupt alles, was passiert ist", fasst er die Situation zusammen.

Richterin Petschniker erklärt dem Angeklagten, dass der Strafrahmen für seine Tat bei sechs Monaten bis fünf Jahre Haft liegt. "Aber meiner Meinung nach ist das ein absoluter Grenzfall. Wozu dient eine Strafe? Was haben Sie davon, wenn ich Ihnen sieben oder acht Monate bedingt gebe? Die stehen im Strafregister und werden möglicherweise dafür sorgen, dass Sie nach dem Lehrabschluss Probleme bei der Jobsuche haben."

Therapie und Anti-Gewalt-Training besucht er bereits, sein Geständnis bei der Polizei war überschießend, wie schwer das Opfer tatsächlich verletzt wurde, weiß man nicht – daher bietet die Richterin K. ein weiteres Mal eine Diversion an. Er muss 100 Euro Pauschalkosten zahlen und ihr in den kommenden beiden Jahren alle drei Monate eine schriftliche Bestätigung übermitteln, dass er weiter das Anti-Aggressions-Training besucht.

"Das ist wirklich Ihre allerallerletzte Chance", gibt sie dem 24-Jährigen noch mit auf den Weg, der das Angebot dankend annimmt. Da der Staatsanwalt keine Erklärung abgibt, ist die Entscheidung nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 18.1.2023)