2022 wird wohl als das turbulenteste Jahr in die Geschichte des 2006 gegründeten Social Networks Twitter eingehen. Im Frühjahr hatte der umstrittene Tech-Unternehmer Elon Musk sein Kaufinteresse bekanntgegeben und schließlich ein 44 Milliarden Dollar schweres Kaufanbot gelegt. Bald nachdem dieses angenommen wurde, versuchte er jedoch, einen Ausweg aus dem Deal zu finden, und unterstellte Twitter, wissentlich falsche Angaben zum Aufkommen automatisierter Accounts auf seiner Plattform zu machen.

Seine Vorwürfe und der Versuch, den Kaufpreis hinunterzuverhandeln, fruchteten allerdings nicht. Twitter wollte es auf eine Klärung vor Gericht ankommen lassen. Kurz vor dem Verhandlungstermin, für welchen dem Unternehmen gute Chancen auf Erfolg bescheinigt worden waren, knickte Musk schließlich ein. Der Kauf wurde vollzogen – und er neuer CEO.

Keine Ruhe

Ruhe kehrte damit allerdings nicht ein. Es folgten Massenentlassungen, öffentliche Streitereien mit ehemaligen Mitarbeitern und Kündigungsdrohungen gegenüber allen, die sich nicht zu den neuen Arbeitsbedingungen verpflichten lassen wollten, die Musk in einer E-Mail als "extrem hardcore" beschrieb. In Europa ist dazu ein arbeitsrechtlicher Streit anhängig.

Dazu kommen Entscheidungen wie die Aufhebung der Sperre von Ex-US-Präsident Donald Trump und verschiedenen Rechtsextremisten, die Veröffentlichung interner Dokumente und längst nicht immer nachvollziehbare, plötzliche Regeländerungen, die mitunter so gar nicht zu Musks Selbstbeschreibung als "Meinungsfreiheitabsolutist" passen.

Aber wie ist es, unter Musk als Chef zu arbeiten? Was hat die Übernahme für die verbliebenen Angestellten und die Kultur im Unternehmen verändert? Diesen Fragen sind "The Verge" und das "New York Magazine" in einer umfassenden Reportage nachgegangen.

Seit Musk bei Twitter am Ruder ist, ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Dieses Symbolbild wurde mithilfe der Bilder-KI Stable Diffusion generiert.
Foto: DER STANDARD/Pichler/Stable Diffusion

Optionslose und Opportunisten

Bei Twitter, so heißt es, sind nach tausenden Entlassungen fast nur noch zwei Arten von Mitarbeitern übrig: jene, die aufgrund ihrer Gesundheitsversicherung oder ihres Arbeitsvisums kaum eine andere Wahl haben. Und jene, die sich mit Musk identifizieren können und sich Aufstiegschancen im neu entstandenen Machtvakuum erhoffen.

Dabei begegneten längst nicht alle Angestellten dem neuen Chef sofort mit Ablehnung. Manche, etwa Alicia und Simon (Namen von den Autoren geändert), hofften auf frischen Wind. Der eine schwärmte von Musks Erfolg mit Tesla und wünschte sich eine Abkehr von der aus seiner Sicht viel zu relaxten Arbeitskultur. Die andere erhoffte sich von ihm, der sich gerne als Techniker darstellt, mehr Unterstützung für ihre Aufgabenbereiche.

Zwei Tage bevor Musk Twitter offiziell übernahm, lernte Alicia ihn persönlich kennen. Sie versuchte, ihm an jenem 26. Oktober zu erklären, wie Twitters IT-Infrastruktur funktioniert und wo die Kostenstellen liegen. Als sie eine technische Erklärung zur Effizienz der Rechenzentren von Twitter begann, wurde sie allerdings von Musk unterbrochen. "Ich habe in den Neunzigern Programme in C geschrieben", wies er ihre Ausführungen ab. "Ich weiß, wie Computer funktionieren."

Stattdessen wollte Musk lieber darüber reden, dass Twitter längere Videos unterstützen und Contenterstellern höhere Werbetantiemen ausschütten sollte, als es Youtube tut. Die Mitarbeiter aus der Infrastrukturabteilung bestätigten, dass das Vorhaben technisch umsetzbar sei. Allgemein herrschte aber Verwunderung darüber, warum er über solche Pläne nicht mit der Strategie- oder der Marketingabteilung redete, in deren Zuständigkeit die Weiterentwicklung des Angebots liegt.

Tag X

Am nächsten Tag versammelte sich die Belegschaft zu einer Halloween-Feier in der Cafeteria des Hauptquartiers. Die Stimmung war allerdings gedrückt. Noch bevor Musk seinen ersten Tag als CEO begann, machten Gerüchte die Runde, dass 75 Prozent der Mitarbeiter womöglich entlassen würden. Aus den Toilettenräumen, so berichten Anwesende, war mitunter lautes Schluchzen zu hören. Während der Feier wurde bekannt, dass der Übernahmedeal nun vollzogen worden war.

Einige Stunden später war auch der Abgang von großen Teilen des bisherigen Führungsteams fixiert. Die meisten Betroffenen hatten ihre Ablöse vorausgesehen und waren an diesem Tag gar nicht erst ins Büro gekommen. Justitiar Sean Edgett war für die Übergabe des Unternehmens angereist und wurde nach seiner Entlassung von Sicherheitsbediensteten aus dem Gebäude geleitet.

Ersetzt wurden sie mit Vertrauten von Musk. Etwa dem ebenfalls in rechten Gewässern fischenden Investor David Sacks, dem Venture-Kapital-Geber Jason Calacanis, dem Chef der Boring Company, Steve Davis, oder dem Promi-Anwalt Alexis Spiro. Fragen zur Jobsicherheit wurden laut. Ein Meeting für alle Mitarbeiter wurde angekündigt, dann wieder aus dem Kalender gestrichen. Entwicklern wurde angeordnet, den von ihnen in den letzten 30 bis 60 Tagen verfassten Code auszudrucken und Musk persönlich vorzuzeigen, ehe man auf PDFs umschwenkte und schließlich die Arbeitsbeschau durch den neuen Chef gänzlich absagte.

Chaotischer Vorspann zur Entlassungswelle

Teamleiter wurden von der neuen Führung, die alsbald den Beinamen "The Goons" ("Die Schlägertruppe") erhielt, angewiesen, ihre Mitarbeiter zu reihen. Nach welchen Kriterien, blieb allerdings unklar. Kommuniziert wurde lediglich, dass Musk sich dieses Ranking wünsche. Das Ergebnis waren lange, aber wenig aussagekräftige Namenslisten, zusammengestellt nach unterschiedlichsten Variablen.

Im nächsten Anlauf sollten die Teamleiter benennen, welche Mitarbeiter von "kritischer" Wichtigkeit oder "technisch" besonders unentbehrlich seien. Wer nachfragte, wie sicher sein Job sei, erhielt keine Antwort. Selbst die Führungskräfte tappten oft im Dunkeln. Dann kamen die Kündigungsanweisungen. Ein Manager aus der Entwicklung, so wird überliefert, übergab sich in einen Mistkübel, nachdem ihm mitgeteilt wurde, dass er hunderte Leute vor die Tür setzen müsse.

Zudem verbot Musks Team große Zusammenkünfte von Angestellten. Man fürchtete offenbar organisierte Sabotage von künftigen Ex-Mitarbeitern. Wer sich nicht daran hielt, riskierte einen vorzeitigen Abgang.

Viele Mitarbeiter harrten schließlich weitgehend beschäftigungslos ihrer Entlassung. Andere wiederum wurden für von Musk initiierte Projekte herangezogen und arbeiteten oft Nächte durch, um willkürlich gelegte Deadlines zu erfüllen. Gleichzeitig änderten sich die Pläne auf fast täglicher Basis. Wer die Zeitvorgaben nicht einhalten konnte, dem wurde mit Entlassung gedroht. Eine Perspektive, die für einige zunehmend attraktiv erschien. Am 3. November kündigte das Unternehmen schließlich in einer namentlich nicht gezeichneten E-Mail einen großen Stellenabbau an. Wer bleiben konnte und wer gehen musste, sollte am folgenden Morgen ebenfalls per Mail bekanntgegeben werden.

Alicia behielt ihre Stelle, fühlte sich aber schuldig und empfahl ihren verbleibenden Mitarbeitern im Geheimen, sich einen Plan für eine etwaige Entlassung zurechtzulegen.

Fehlstart für Twitter Blue

Andere nutzten die Gelegenheit für Karrieresprünge. Eine Managerin hatte seit Musks Amtsantritt immer wieder den Kontakt gesucht und wurde zur Verantwortlichen für den Launch des überarbeiteten Twitter-Blue-Abos gemacht, das nun auch eine Verifizierung des Kontos beinhaltete. Zuvor war sie für die Umsetzung des Features verantwortlich, das die Verwendung von NFTs als Avatarbild ermöglichte.

Sie veröffentlichte einen Tweet von sich mit Schlafsack und Schlafmaske im Büro. "Wenn dein Team sich rund um die Uhr anstrengt, um Deadlines zu schaffen, dann schläft man manchmal am Arbeitsplatz", schrieb sie dazu – und zog sich den Unmut vieler anderer Mitarbeiter zu. Intern verteidigte sie die Massenentlassungen. Sie sei zwar "tieftraurig" über die Abgänge, aber "drastische Einschnitte" seinen notwendig gewesen, "egal wer die Firma besitzt".

Warnungen des Trust-&-Safety-Teams, dass die Umsetzung des neuen Twitter Blue mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erhöhtem Aufkommen von Fake-Accounts mit Verifikationshaken führen werde, wurden in den Wind geschlagen. Genau aus diesem Grund allerdings musste das Abo schließlich nach wenigen Tagen wieder stillgelegt und überarbeitet werden. Das Marketingteam war entsetzt von dem Fehlschlag.

Der Schaden war allerdings angerichtet und beschleunigte den Abfluss von Werbegeldern von Twitter. Nicht einmal großzügige Rabatte halfen. Musk schob die Entwicklung öffentlich auf "Aktivistengruppen", die Firmen unter Druck setzen würden, keine Anzeigen mehr zu schalten. Mehr als 500 der wichtigsten Werbekunden sollen laut "The Information" ihre Ausgaben bei Twitter mittlerweile auf Eis gelegt haben, der Tagesumsatz im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent gesunken sein.

Im für kritische Infrastruktur zuständigen Team war derweil Chaos ausgebrochen, denn nicht einmal die dortigen Manager waren vollständig darüber im Bilde, wer nun entlassen worden und wer noch Teil der auf ihr Skelett reduzierten Belegschaft war. Man erarbeitete gemeinsam Listen auf Google Docs, um wieder einen Überblick zu bekommen.

Es drohten Probleme, und eine Diskussion über die Rückholung mancher Entlassener begann. Nachdem Musk Wiederanstellungen zuerst kategorisch abgelehnt hatte, änderte er seine Haltung schließlich. Die Manager hatten nun eineinhalb Tage – von einem Samstag bis Sonntagnachmittag – Zeit, um jene Leute zu kontaktieren, die sie zurückholen wollten.

Verstummter Diskurs

Beim verbliebenen Moderationsteam kehrte mittlerweile Frust ein. Vertrauen und Sicherheit seien ihm sehr wichtig, hatte Musk einer führenden Managerin versprochen. Öffentlich hatte er verlautbart, dass er als CEO Entscheidungen wie etwa eine Aufhebung der Sperre von Donald Trump einem eigenen Expertenrat überlassen würde – nur um dann darüber eine öffentliche Umfrage durchzuführen. "Das hat die naive Illusion zerstört, dass Moderation etwas anderes sein werde, als zur Musik des aufgeblasenen Egos eines einzelnen Mannes zu tanzen", meint dazu ein ehemaliger Angestellter.

Intern verstummte der Diskurs zunehmend. Gruppen, in denen immer wieder auch heikle politische Themen besprochen worden waren, wurden stillgelegt. Auch ein Kanal, der von konservativeren Mitarbeitern betrieben worden war, die die tendenziell oft nach progressiven Standpunkten gestalteten Richtlinien immer wieder hinterfragten, wurde archiviert. Denn prominente Mitglieder waren von der Entlassungswelle erfasst worden.

In einem gerade einmal 20 Minuten vor Beginn angekündigten Meeting deutete Musk weiteren Stellenabbau an und kehrte die permanente Homeoffice-Erlaubnis um. Wer physisch in der Lage sei, ins Büro zu kommen, müsse künftig wieder vor Ort arbeiten oder dürfe sich als entlassen betrachten. Das sorgte nicht nur für Ärger und Enttäuschung unter den Mitarbeitern, sondern ließ auch die Rechtsabteilung hellhörig werden, zumal dieser Kurswechsel im Widerspruch zu den Vereinbarungen in den meisten Dienstverträgen stand.

Für Alicia war das ein Abschiedssignal. Sie empfahl anderen Angestellten in internen Gruppenchats, nicht von sich aus zu gehen, sondern auf eine Entlassung zu warten, um Anspruch auf Abfindungszahlungen zu haben. Einige Tage später wurde sie selbst vor die Tür gesetzt, wegen "Verstößen gegen die Unternehmensrichtlinien".

Ultimatum wurde zum Bumerang

Die verbliebene Belegschaft erhielt schließlich das berühmt-berüchtigte Ultimatum. Man müsse bereit sein, "extrem hardcore" an Twitter 2.0 zu arbeiten, wenn es sein müsse, auch mit langen, intensiven Überstunden, und nur herausragende Leistungen würden anerkannt. Wer bis zum Ende des folgenden Arbeitstags sein Einverständnis nicht per Klick abgab, galt ebenfalls als entlassen und sollte drei Monatsgehälter als Abfindung erhalten.

Wie die Überstunden entlohnt würden oder wie sich Musk Twitter 2.0 überhaupt vorstellte, darüber schwieg sich die Botschaft aus. Als sich abzeichnete, dass sehr viele Mitarbeiter das Ultimatum verstreichen lassen würden, rückte die Führung aus, um einen Teil davon in kleinen Gruppenmeetings zum Bleiben zu bewegen. Allerdings mit durchwachsenem Erfolg. Selbst ursprünglich gegenüber dem neuen Chef loyale Angestellte hatten mittlerweile genug. Zurück blieben viele, denen es an Alternativen mangelte.

Abschiedsstimmung, Klagen und technische Probleme

Und auch unter diesen bröckelt es. Aktionen wie die "Twitter Files", für die Musk ohne jede Rücksprache und zum Vorantreiben seiner eigenen Agenda, seine Vorgänger in der Chefetage als ultraprogressive Kollaborateure des "Deep State" darzustellen, Zugriff auf interne Dokumente gab, beschädigten das Vertrauen weiter. Im Rahmen der Veröffentlichung wurden verschiedene ehemalige Mitarbeiter – längst nicht alle aus dem Führungsteam – als Teil der mutmaßlichen Verschwörung insinuiert und teilweise auch private Daten öffentlich gemacht. Musk lieferte zudem eine homophobe Attacke gegen den ehemaligen Twitter-Sicherheitschef Yoel Roth, den er in die Nähe der Pädophilie rückte.

Musk steht zudem eine Klage von rund 500 ehemaligen Angestellten ins Haus, denen versprochene und auch vertraglich zugesicherte Zahlungen nach ihrer Entlassung nie geleistet wurden. Jenen, die unter einer 60-Tage-Frist entlassen wurden, werden hingegen Vereinbarungen aufgedrängt, die es ihnen verbieten, öffentlich etwas Negatives über das Unternehmen zu sagen oder die Firma zu verklagen. Viele der noch bei Twitter tätigen Mitarbeiter sollen insgeheim nach neuen Jobs Ausschau halten.

Trotz aller Turbulenzen hielt Twitter als Plattform technisch lange stand. Das verantwortliche Team war zwar geschrumpft worden, hatte sich unter dem Druck aber neue Kompetenzen erarbeitet. Erst Ende Dezember zeigte sich daher, welches Risiko diese Art des Managements mit sich bringt. Gut einen halben Tag lang kämpften Nutzer in manchen Regionen mit Ausfällen.

"Kann das hier jemand sehen, oder ist Twitter kaputt?", schrieb ein Nutzer, der offenkundig von den Problemen betroffen war. Er erhielt eine Antwort vom CEO höchstpersönlich, der wenig Verständnis zeigte. "Für mich funktioniert alles", so Elon Musk. (gpi,18.1.2023)