Ubisoft-CEO Yves Guillemot kündigte immer wieder Änderungen in seinem Unternehmen an. Jetzt macht er die Mitarbeiter für die schwierige wirtschaftliche Lage verantwortlich.

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Captain Jean-Luc Picard steht auf der Brücke, die Borg greifen an und sind dabei, die Enterprise zu entern. In der Serie würde der meist weise und ruhige Captain die Zeichen richtig deuten, die Vorschläge seiner Untergebenen anhören und dann eine Entscheidung treffen. Ganz gleich ob er den Stolz der Sternenflotte rettet oder nicht, der Kapitän würde die Verantwortung übernehmen. Unvorstellbar wäre eine Szene, in der Picard der Crew im Maschinenraum Vorwürfe macht, weil sie den Warpantrieb zu spät gezündet hat, und ihr die Schuld für den Angriff der Roboterwesen zuweist. Das nennt man Führungsstärke. Die ist selten gerecht, die Aufgabe nie einfach, aber einer muss sie eben machen.

Möglicherweise ist Yves Guillemot kein großer "Star Trek"-Fan. Der Mitgründer und CEO von Ubisoft beweist gerade alles andere als Führungsqualitäten für sein Unternehmen, das er gemeinsam mit seinen Brüdern Claude, Michel, Gérard und Christian mit nur 24 Jahren gründete und lenkt, seitdem er 28 Jahre alt ist.

Ein toxisches Umfeld

Nicht dass es in wirtschaftlich guten Zeiten anders gewesen wäre. Im Rahmen einer Mitarbeiterbefragung berichteten vor zwei Jahren 3.500 Mitarbeiter, das entsprach damals 25 Prozent der Belegschaft von Ubisoft, dass sie von Fehlverhalten ihrer Vorgesetzten betroffen waren. Guillemot kündigte Änderungen in der Unternehmenskultur an. Ein Jahr später wurde klar: Nichts war geschehen.

Im Gegenteil, immer mehr Vorwürfe von sexuellen Übergriffen auf Mitarbeitende wurden bekannt. Guillemot versprach erneut Besserung. Wieder ein Jahr später waren einige Manager und Teamleiter Geschichte, aber die Unternehmenskultur besserte sich nicht, wie über 1.000 ehemalige und aktive Mitarbeiter von Ubisoft in einem Brief klarmachten. Kaum ein Versprechen wurde erfüllt. Man stelle sich vor, Captain Picard hätte Berichte über Fehlverhalten seiner Offiziere mehrere Jahre ignoriert, um dann halbherzig Besserung anzukündigen. Auf der Enterprise unvorstellbar.

Yves Guillemot gab dagegen "La Presse" ein Interview in dem er meinte, dass die Toxizität in der Spieleindustrie von notwendiger "Reibung" im kreativen Prozess herrühre. Gegenüber dem Branchendienst "Kotaku" rückte Guillemot dann aus, um seine Aussagen zu relativieren: Er habe mit "Reibung" nur Meinungsunterschiede gemeint, die zu hitzigen, aber gesunden Debatten führen und in einer Kreativbranche wichtig seien.

Dem steht ein Recherche von "Libération" entgegen, die nahelegt, dass die Ubisoft-Führungsetage schon 2017, lange bevor die Beschwerden der Mitarbeitenden öffentlich wurden, bescheid wusste. Vor allem bei Ubisoft Montpellier, dem Entwicklungsstudio des noch immer nicht erschienenen "Beyond Good and Evil 2", berichteten Mitarbeitende von Unwohlsein, Angst, Burnout und Depressionen. Vom Studioleiter trennte sich Ubisoft erst 2020.

Mitarbeiter sollen für Managementfehler geradestehen

Nun wird es auf der ganzen Welt keine "perfekte" Führungsfigur wie Jean-Luc Picard geben, und jeder CEO, jeder Chef hat Schwächen, egal ob es sich um einen der größten Videospielpublisher der Welt oder einen Tischlerbetrieb mit drei Mitarbeitenden handelt. Doch Ubisoft segelt nach den Skandalen munter auf den nächsten Eisberg zu. Diesmal steht möglicherweise der Fortbestand des Unternehmens auf dem Spiel.

Aber was macht Guillemot? Er wälzt in einem Brief die Verantwortung auf die Angestellten ab. "Es liegt an euch, das Line-up pünktlich und in der erwarteten Qualität zu liefern und allen zu zeigen, was wir zu leisten imstande sind." Mehr denn je sei es deshalb wichtig, dass sich alle mit voller Energie für die Rückkehr auf "den Pfad des Erfolgs" einsetzen würden. Die 20.000 Mitarbeitenden in 45 Studios weltweit sollen es also richten.

Eine Entwicklerin von Ubisoft Milan zeigt Szenen aus "Mario + Rabbids: Sparks of Hope". Das Spiel sollte die Quartalszahlen von Ubisoft retten und kam auch bei Kritikern gut an, floppte jedoch bei der Kundschaft.
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Von Einsicht spürt man wenig: Die Konkurrenz sei schuld, die Kundschaft, die lieber "Megamarken" spiele. Und das sagte Guillemot, obwohl Ubisoft selbst die Zuspitzung des Marktes auf riesige Spielefranchises wie "Assassin's Creed" und "Far Cry" aus der ersten Reihe mitbefeuert hat.

Die Entwicklung von insgesamt sieben noch unbekannten Spielen wurde gecancelt, der Hoffnungsträger "Skull and Bones" auf 2023 oder 2024 verschoben. Seit einem Add-on für "Assassin's Creed Valhalla: Die Zeichen Ragnaröks" kam kein richtiger Kracher mehr. Spiele wie "Mario + Rabbids: Sparks of Hope" und "Just Dance 2023" floppten, der Konzerngewinn brach um zehn Prozent ein, und Ubisoft verlor in den vergangenen zwei Jahren rund 65 Prozent des Börsenwerts. Das Unternehmen operiert in einer Art "Notfallmodus", es herrscht Alarmstufe Rot an Deck.

Jahrzehntelang immer die gleichen Spiele

Verwunderlich ist das nicht. Zu lange hat Ubisoft die immer gleichen Spiele produziert. Wer "Assassin's Creed 2" gespielt hat, findet sich in "Assassin's Creed: Valhalla" trotz eines Wandels hin zum Rollenspiel sofort zurecht. Zwischen den beiden Titeln lagen aber elf Jahre und neun immer sehr ähnliche Spiele. Die Shooter-Serie "Far Cry" stand einst für bahnbrechende Grafik und ausgefallene Szenarien, heute verbindet man damit nur die Begriffe Funktürme, um die Karte aufzudecken, und die Jagd auf exotische Tiere, um sich eine größere Geldbörse zu verschaffen.

Der Multiplayer-Open-World-Shooter "The Division" war mit all seinen Abstürzen und den Balancing-Problemen von Tag eins an tot. Nach einigen Monaten musste das Entwicklerstudio selbst eingestehen, dass ihr Spiel keinen Spaß macht. Ein umfangreicher Patch wurde angekündigt, um die Katastrophe einzudämmen, doch die Spielerbasis war weitergezogen. Der Nachfolger "The Division 2" machte zwar eine bessere Figur, verliert aber kontinuierlich Spieler.

"Ghost Recon Breakpoint" war schon bei Erscheinen des Spiels von Kritikern und Spielern gleichermaßen wegen fragwürdigen Designentscheidungen wie mitlevelnden Roboterdrohnen verhasst. Die "Ubisoft-Formel" wurde zum allgemein bekannten Schmähbegriff für die immer gleichen und repetitiven Open Worlds, die sich mehr nach Arbeit als nach Spielspaß anfühlen.

Auf diese Marken will sich Guillemot also nun konzentrieren, mitten in der größten Krise des Unternehmens sollen ausgerechnet Spielfranchises das Unternehmen retten, die teilweise selbst auf lebenserhaltende Maßnahmen angewiesen sind. Gleichzeitig bezeichnete er "Avatar: Frontiers of Pandora" und "Skull and Bones" als "die größte Pipeline der Geschichte". Eher gilt als wahrscheinlich, dass nur "Assassin's Creed: Mirage" den Karren noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, aus dem Dreck zieht. Der aktuell einzig stabilisierend wirkende Faktor ist die "Rainbow Six"-Serie, deren populärster Ableger "Siege" aber bereits sieben Jahre auf dem Buckel hat.

Ubisoft sucht dringend einen Käufer

In solch einer Situation klopfen üblicherweise Riesen wie Microsoft, Sony oder das chinesische Unternehmen Tencent mit einem Koffer voller Geld in Händen an die Kajütentür des Kapitäns. Doch ein Übernahmeangebot blieb im Fall von Ubisoft aus. Niemand will den angeschlagenen französischen Publisher haben.

Also wurde das Ubisoft-Management von sich aus tätig und schickte laut dem Gamingjournalisten Jeff Grubb Verhandler zu den üblichen Verdächtigen in der Branche. Statt friedlicher Übernahmeangebote gab es vor allem eines: Spott. Die Vertreter von Ubisoft sollen regelrecht ausgelacht worden sein. Das Unternehmen mit seinen weltweit verstreuten Studios sei zu aufgebläht, zu schwerfällig. "Die Stärke war die verteilte Entwicklungsstruktur von Ubisoft, nun ist es ein Albatros", schreibt Grubb.

Angestellte drohen mit Streik

Für die Mitarbeitenden ist das doppelt bitter: Ihr Arbeitgeber geriet durch Missmanagement, Skandale und oft am Kunden vorbei entwickelte Produkte in Probleme, nun wird ihnen die Schuld an der Misere gegeben. Will man finanzkräftige Investoren finden, muss sich Ubisoft dramatisch verschlanken – sprich: Ein großer Teil der Angestellten wird gehen müssen. Egal was passiert, sie müssen für die Fehler ihrer Chefs büßen. Nicht dass sie ihre Vorgesetzten nicht auf die Probleme aufmerksam gemacht hätten. Unter "A Better Ubisoft" ruft die Belegschaft seit bald zwei Jahren nach Änderungen – doch gehört wurde sie nicht.

Kein Wunder, dass die Gewerkschaft Solidaires Informatique Guillemots Brief als klare Kampfansage gegenüber der Belegschaft auffasste. Guillemots Sparmaßnahmen würden auf Personalabbau, schleichende Studioschließungen, Gehaltskürzungen und Entlassungen hinauslaufen, kritisieren die Personalvertreter. Sie reagierten mit drastischen Forderungen und verlangten von Guillemot umgehend eine zehnprozentige Erhöhung aller Gehälter, die Einführung einer Vier-Tage-Woche, volle Transparenz über die Entwicklung des Arbeitsplatzes und ein Ende der verschleierten Kündigungen. Guillemot hat bis zum 27. Jänner Zeit, auf die Forderungen zu reagieren – andernfalls werden die Angestellten die Arbeit niederlegen und streiken.

Fragerunde lässt Mitarbeitende ratlos zurück

In einer firmeninternen Fragestunde mit Guillemot war die Stimmung unter den Mitarbeitenden erwartbar schlecht. Vor allem die Formulierung des Chefs, der Ball liege jetzt bei der Belegschaft, stieß auf viel Kritik. "Der Ball ist jetzt in unserem Spielfeld – jahrelang war er in Ihrem Spielfeld. Warum haben Sie den Ball so schlecht gehandhabt, dass wir, die Arbeitnehmer, ihn für Sie in Ordnung bringen müssen?", fragt etwa ein Entwickler. Kapitän Guillemot versuchte einmal mehr halbherzig zurückzurudern: Er hätte damit nur ausdrücken wollen, dass "ich mehr denn je Ihr Talent und Ihre Energie brauche, um dies zu erreichen". Das Meeting war nach einer Stunde zu Ende, voll mit Management-Buzzwords, und der CEO soll laut einem Bericht von "Kotaku" wenig Konkretes zur Zukunft von sich gegeben haben.

Das Schiff brennt, die Besatzung meutert, und der Kurs ist in Richtung Eisberg gesetzt. Ein Jean-Luc Picard könnte die katastrophale Lage bestimmt retten. Ob Guillemot über die Fähigkeiten verfügt, ist fraglich. So weit hätte es nicht kommen müssen, hätte die Chefetage nur Führungsstärke bewiesen, Verantwortung übernommen und den eigenen Untergebenen zugehört. Zeit genug hatte sie. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. (Peter Zellinger, 22.1.2023)