Exzesse, so weit das Auge reicht: In "Babylon" zeigt Damien Chazelle nicht nur, wie man in den 1920ern zu feiern wusste.

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Der Anfang ist ein Witz. Auf einer staubigen Landstraße hält ein Fahrzeug. Es soll etwas abholen, das schwer, sehr schwer sogar ist. Es handelt sich um einen lebenden Elefanten – die exotische Einlage für eine drogenintensive Hollywoodparty, die noch diese Nacht steigt. Auf dem Weg dorthin droht der Transport zu scheitern, und der aufgebrachte Elefant – man kann es ihm nicht verdenken – entleert sich, eine Dungflut stürzt in Richtung Kamera.

Paramount Pictures

Der Witz enthält in mancher Hinsicht schon den ganzen Film. Denn in Damien Chazelles Babylon geht es um die Nähe von Glitz und Glamour zu den weniger polierten, übel riechenden Seiten der Filmindustrie, die den Ruf Hollywoods als "magischster Platz auf Erden" um jenen des Sündenpfuhls ergänzen.

Der 37-jährige Chazelle, seit seinem oscargekrönten Musical La La Land einer der jüngeren US-Regiestars, bezieht sich mit dem Filmtitel auf Kenneth Angers berüchtigtes Buch Hollywood Babylon, jene "chronique scandaleuse" der goldenen Filmära, in der man von Erich von Stroheims Orgienszenen bis zum Mord an der "Eiskrem-Blondine" Thelma Todd alles findet, was das böse Klatschherz so begehrt.

Ohne moralische Einschränkung

Babylon wirft einen Blick zurück auf die Ära der 1920er-Jahre und den Übergang zum Tonfilm, halb nostalgisch, halb durchkreuzt von einer den Coen-Brüdern nicht unähnlichen Ironie. Zu Beginn herrscht noch jene ausgelassene Zeit – so will es die Fama –, wo alles ging und kaum einer kontrollierte. Die moralischen "Don’ts" des Production Code wurden erst 1930 eingeführt. Ein wilder Tummelplatz, regiert von Geschäftemachern und Unterhaltungskünstlerinnen, die noch das Herkunftsmal "Vaudeville" und Jahrmarkt auf der Stirn stehen hatten.

In einer der spektakulärsten Szenen des Films sind wir am Set, nein, auf zig Stummfilmsets mit dabei. Die Kamera von Linus Sandgren schlängelt sich durchs Geschehen und delektiert sich am Chaos. Es geht schief, was nur schiefgehen kann. Und dann spielt im entscheidenden Moment alles wie von Gottes Hand gelenkt zusammen: Die Illusion des Kinos streicht die anarchischen Umstände, unter denen eine Szene entsteht, auf magische Weise wieder durch.

Unwiederbringliche Ära

In jedem seiner Filme sucht Chazelle den unwiederbringlichen Moment, und sein virtuoser Komponist Justin Hurwitz spielt dazu eine zarte Melodie. Das ist auch in Babylon nicht anders, nur dass es sich diesmal gleich um eine ganze Epoche handelt. Die Stummfilmära war – Obacht: paradox! – laut, exzessiv und oft auch begnadet-dilettantisch, der Tonfilm brachte vieles zum Schweigen.

In der Gegenszene zur obigen sehen wir einen Studiodreh, in dem die gerade noch gefeierte Newcomerin Nellie LaRoy eine einzige Szene so oft wiederholen muss, bis wirklich allen im Team der Kragen platzt. Es ist die Hölle der Repetition, in der die Technik der Freude an der Kreativität den Garaus macht. Chazelle hat die berühmte Szene aus Singing in the Rain noch ein wenig nachgeschärft.

Sterne am Sinken

Margot Robbie spielt Nellie mit dem derben Charme der siegessicheren Provinzschönheit, die nach Hollywood kommt, um berühmt zu werden. Sie gehört zu einer Handvoll Figuren, die Babylon kaleidoskopartig begleitet und deren Karrieren mit dem Paradigmenwechsel ins Strudeln geraten. Nellies männlichen Gegenpart verkörpert Brad Pitt, den Douglas-Fairbanks-Sr.-ähnlichen, alkoholseligen Star Jack Conrad, der nicht wahrhaben will, dass sein Stern am Sinken ist.

Und da sind der smarte Latino Manny Torres (Diego Calva), der Jazztrompeter Sidney Palmer (Jovan Adepo) und die mysteriöse Lady Fay Zhu (Li Jun Li), mit denen Chazelle auch die unterrepräsentierte Seite Hollywoods behandeln will – und ihnen dabei selbst zu wenig Leinwandzeit gewährt.

Zu viel und zu wenig zu zeigen, das beschreibt auch das Dilemma des Films. Babylon hat einen exzessiven Zug, er franst ständig aus und interessiert sich zu notorisch für die Entgleisung und den Abgrund – manchmal im wortwörtlichen Sinn, wenn der Film in die mehrstöckigen Katakomben eines Gangsters abtaucht, wo gleichsam das Unbewusste der Unterhaltungsindustrie kauert.

Das große Panorama will sich aber nicht einstellen. Kurze, melancholische Einschübe halten die Sinne wach: Pitts Conrad, der mit ungläubigem Gesicht Nellies Kampf mit einer Klapperschlange bestaunt und dunkel ahnt, dass es so nicht weitergeht. Chazelle hat seinen Film wohlweislich in einem Moment der Filmgeschichte platziert, in dem das Kino wieder einmal für tot erklärt wird. Mit Babylon gelingt es ihm zwar nur bedingt, die Magie neu zu wecken. Aber leben wird es trotzdem – solange Menschen daran glauben. (Dominik Kamalzadeh, 19.1.2023)