Die meisten vertriebenen Binnenflüchtlinge kommen bei anderen Familien unter.

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Am Sonntag attackierte die ADF eine Kirche im Osten des Kongo mit einer Bombe. 14 Menschen wurden getötet.

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Bei einem Bombenanschlag auf eine Kirche im Ort Kasindi in der Demokratischen Republik Kongo wurden Mitte Jänner 14 Menschen getötet und Dutzende verwundet. Der Angriff, zu dem sich der IS-Ableger ADF (Alliierte Demokratische Kräfte) bekennt, dient als jüngstes Beispiel für die eskalierende Gewalt im Osten des Landes. Seit März 2022 häufen sich Berichte über Kämpfe zwischen Rebellengruppen wie die M23 (März-23-Bewegung) oder der ADF und der Kongolesischen Armee. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass es sich nicht um einen, sondern um dutzende Konfliktherde in der Region handelt. Diese schwelen, mit Unterbrechungen durch friedliche Phasen, bereits seit Jahrzehnten.

Laut Human Rights Watch (HRW) sind mehr als 100 bewaffnete Gruppen im Ostkongo aktiv. Dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge zählt das Land rund 5,6 Millionen Binnenflüchtlinge. Mehr als vier Millionen Menschen seien allein in den Regionen Nord- und Südkivu sowie Ituri vertrieben worden. Laut Kivu Security Tracker wurden mehr als 9.600 Menschen seit 2017 durch Gewalt getötet. Zudem leben etwa 529.000 Geflüchtete aus Nachbarstaaten wie dem Südsudan, der Zentralafrikanischen Republik, Burundi und Ruanda im Kongo. Es sind Ausmaße, die nicht nur den kongolesischen Staat, sondern auch Zufluchtsgemeinden, Hilfsorganisationen und Vertriebene selbst enorm unter Druck setzen.

Vormacht, Ressourcen und Religion

Die östlichen Provinzen Ituri, Nord- und Südkivu sind Schauplätze schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen durch Gruppen, die hinter Akronymen wie M23, ADF, Codeco oder FLDR stecken. Eine der prominentesten ist die M23, die großteils aus ethnischen Tutsis besteht und strategisch wichtige Positionen im Land einnimmt. Laut UN gibt es Beweise dafür, dass die Rebellen durch das benachbarte Ruanda unterstützt werden.

In Kigali, der ruandischen Hauptstadt, streitet man eine Verbindung ab und beschuldigt im Gegenzug die Regierung im kongolesischen Kinshasa, die FDLR, eine Hutu-Rebellengruppe, zu unterstützen. Der FDLR gehören Kämpfer an, die am Völkermord in Ruanda beteiligt waren. Codeco verfolgt hingegen einen ethnisch-religiösen Kampf gegen die Ethnie der Hema. Hinzu kommt die ADF, die Attacken im Namen des "Islamischen Staats" ausführt. Regional bildeten sich auch kleinere bewaffnete Gruppen, die ethnische Spannungen sowie die Kontrolle über Gebiete, die reich an Ressourcen wie Diamanten, Gold, Kupfer und Holz sind, zur Gewalt antreiben. Die Folgen für die zivile Bevölkerung sind dramatisch.

Leben am Straßenrand

Besonders sichtbar wird die Krise in Goma, der Provinzhauptstadt Nordkivus. "In den Außenbezirken von Goma leben die Menschen buchstäblich direkt an der Hauptstraße. Es gibt keinen anderen Ort, an dem sie einen Unterschlupf finden könnten. Wer aus der Stadt rausfährt, sieht über hunderte Meter hinweg Menschen, die nur 30 Zentimeter von der Straße entfernt leben. Das ist extrem unsicher, besonders für Kinder", sagt Florian Monnerie, örtlicher Leiter der humanitären Einrichtung NRC, im Gespräch mit dem STANDARD. Andere Geflüchtete seien in Schulen und Kirchen untergebracht. Laut Monnerie handelt es sich dabei meist um Land- und Viehwirte, die ihr Hab und Gut zurücklassen mussten, um im urbanen Raum Schutz zu finden. Viele mussten bereits mehrmals fliehen.

"Im Kongo werden täglich Menschen vertrieben", sagt Monnerie. Was für ihn aber neu ist, ist die Anzahl der Menschen, die ankommen. Bei NRC sei man Umsiedlungen von Gruppen mit bis zu 500 Familien gewohnt und könne sie unterstützen. Doch durch die Zunahme der Konflikte würden innerhalb kurzer Zeiträume teilweise bis zu 10.000 Familien flüchten. "Wenn innerhalb von zwei Wochen etwa 300.000 Menschen vertrieben werden, sind wir nicht vorbereitet, um sofort und mit allen Mitteln agieren zu können", meint Monnerie. Daher seien Gastfamilien, die einen Großteil der vertriebenen Binnenflüchtlinge aufnehmen, enorm wichtig. "Wir sehen oft Familien, die ein bis drei andere Familien beherbergen und von sieben auf 24 Mitglieder wachsen."

Sexuelle Gewalt in Konfliktgebieten

Menschen auf der Flucht aus Orten wie Kishishe, Bambo oder Beni in Nordkivu beziehungsweise Djugu oder Mahage in Ituri berichten von Gräueltaten durch die kongolesischen Streitkräfte, die Polizei sowie bewaffnete Gruppen. Laut einem Bericht von NRC erlebt jede siebente Frau im Land vor ihrem 18. Lebensjahr sexuelle Gewalt. Das Problem sei in konfliktbetroffenen Gemeinden noch gravierender.

Es gebe viele Menschen, die von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen berichten, sagt Nora Staunton, Schutzbeauftragte des UNHCR in den östlichen Provinzen Nord- und Südkivu, im Gespräch mit dem STANDARD. Übergriffe geschähen oft, wenn Frauen auf die Felder gehen oder von diesen zurückkommen und Angriffen, Entführungen, Plünderungen und Brandschatzung ausgesetzt seien. "Die Menschen sind in erheblichem Maße mit Gewalt konfrontiert." Laut Human Rights Watch werden Verbrechen in den Konfliktgebieten kaum strafrechtlich verfolgt. Neben Frauen sind laut Staunton auch Kinder, Senioren und Menschen mit Behinderungen besonders gefährdet.

Angriffe auf Lager

Hinzu kommt, dass bewaffnete Gruppen die Lager der Schutzsuchenden angreifen. Laut Monnerie gab es allein in Nordkivu im vergangenen Jahr mindestens zehn Angriffe auf Camps mit Binnenflüchtlingen. Bei Schulen geschehe das monatlich. Dabei würden diese eingenommen, geplündert oder in Brand gesetzt. Monnerie berichtet von einem Fall im Februar vergangenen Jahres. Dabei wurde ein Camp in der Nähe des Ortes Bule in Ituri von bewaffneten Gruppen überfallen – dabei wurden bis zu 60 Schutzsuchende ermordet. Angriffe in dem Ausmaß seien zwar selten, aber nicht ausgeschlossen. Wer die Angreifer waren, gibt Monnerie nicht bekannt.

Der Konflikt bewegt sich zudem schnell von Ort zu Ort. Staunton berichtet von einem Aufnahmelager in Kiwanja nördlich von Goma. Dort half das UNHCR im vergangenen September beim Bau eines Zentrums mit Plätzen für 22.000 Menschen. Doch innerhalb von zwei Wochen erreichte die M23 die Ortschaft. Zu Angriffen kam es nicht, da die Geflüchteten den Ort beim ersten Anzeichen verließen. Das Lager wurde nach kurzer Zeit demontiert.

Die Mittel, um neue Camps aufzubauen, fehlen beim UNHCR. Speziell in Nyiragongo nördlich von Goma könne man trotz verschiedener Maßnahmen nicht in vollem Umfang reagieren, da der Bedarf zu groß und die Finanzierung begrenzt sei. "Zurzeit bauen wir 4.000 bis 6.000 Notunterkünfte. Auch andere Organisationen tragen dazu bei." Nach Stauntons Schätzung sind 30 Prozent des Bedarfs an Unterkünften gedeckt.

Vulkan erschwert Hilfsarbeit

Zwar verkündete die M23 Ende Dezember, sich von strategisch wichtigen Stellungen in Nordkivu unweit der Grenze zu Ruanda zurückzuziehen. Allerdings meldeten UN-Geheimdienstler bereits im Jänner erneute Landnahmen durch die Rebellengruppe. Für das UNHCR hat sich die Lage nach dem kurzlebigen Waffenstillstand mit der M23 nicht entspannt.

Was die Lage der Menschen in diesem Gebiet außerdem erschwert, ist der nahegelegene aktive Vulkan Nyiragongo. Laut NRC könne in den Camps nicht nach Wasser gebohrt werden, da der Boden vulkanisch ist. Wasser wird daher mit Lastwägen geliefert. Der Boden erschwere es auch, Latrinen, Duschen oder Abfallgruben aufzustellen, was wiederum die Gesundheit der Ansässigen gefährde, so Caitlin Brady, örtliche NRC-Leiterin. "Nun sind erneut 350.000 bis 400.000 Menschen angekommen, und wir stehen vor einem ausgewachsenen Cholera-Ausbruch." Von Oktober bis Dezember 2022 wurden laut der UN-Organisation OCHA in der Region nahe Goma mehr als 1.600 Verdachtsfälle gemeldet.

Kleines Projekt, große Wirkung

Wie wichtig der Zugang zu Wasser ist, unterstreicht auch Nora Staunton. Ein Dorf in Nordkivu namens Lushoa beherbergt zahlreiche Binnenvertriebene. Die umliegenden Gebiete sind sehr konfliktträchtig, weshalb viele Geflüchtete ankamen und dablieben. Sie wohnen bei Familien im Dorf. "In so einem Fall arbeiteten wir mit der Zufluchtsgemeinde zusammen, um herauszufinden, was sie brauchen, um diese Menschen aufzunehmen", so Staunton, "und sie sagten einfach, dass sie einen Brunnen brauchen."

Ursprünglich sei die Wasserquelle auf einem Hügel außerhalb des Dorfes gelegen. Als das Wasser von der Quelle in das Dorf umgeleitet wurde, hätte sich die Stimmung der Bewohnerinnen und Bewohner verändert. Frauen und Kinder mussten nun den drei Kilometer langen Fußmarsch entlang der Straße außerhalb des Ortes nicht mehr zurücklegen. Zuvor berichteten Mütter, dass ihre Kinder durch den Verkehr auf der Straße in Gefahr gewesen seien. Auch die Frauen selbst hätten sich nicht sicher gefühlt – besonders beim Wasserholen spät abends oder früh morgens.

"Dieses einfache Projekt im Dorf hat also einen enormen Unterschied für die Menschen gemacht. Erstens mussten die Frauen nicht mehr zweimal am Tag drei Kilometer zu Fuß gehen, was bedeutete, dass sie diese Zeit für andere Dinge nutzen konnten. Zweitens mussten die Bewohner nicht mehr fünf Stunden am Tag in einer langen Schlange auf Wasser warten, da drei verschiedene Wasserstellen eingerichtet wurden", so Staunton.

Es sei ein kleines Projekt mit großer Wirkung gewesen. Auch die Spannungen zwischen Schutzsuchenden und Ansässigen hätten abgenommen. Einige von ihnen seien in ihre Heimatgemeinden zurückgekehrt. Andere sind weiterhin auf der Flucht. (Isadora Wallnöfer, 31.1.2023)