70 Prozent der CO2-Emissionen entstehen in den Bereichen, die über wenige Maßnahmen reguliert werden könnten.

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Kipppunkte in der Klimakrise verheißen meistens nichts Gutes. Fachleute warnen vor schmelzenden Gletschern, auftauenden Permafrostböden und sterbenden Wäldern, durch die sich die Erderhitzung zunehmend verselbstständigt. Aber es gibt auch positive Kipppunkte. Nämlich dann, wenn klimafreundliche Technologien so attraktiv werden, dass es unausweichlich wird, sie einzusetzen.

In einem Bericht, den das Beratungsunternehmen Systemiq und die University of Exeter am Donnerstag beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorgestellt haben, wurden diese sozioökonomischen Kipppunkte unter die Lupe genommen – und es wurde untersucht, mit welchen politischen Maßnahmen sie sich nach vorn verschieben lassen.

Je mehr, desto günstiger

Die Autorinnen und Autoren haben dabei drei "Superhebelpunkte" identifiziert, mit denen rund 70 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen unter Kontrolle gebracht werden könnten. Regierungen sollten die Einführung von Elektrofahrzeugen durchsetzen, Fleischalternativen beschaffen und nachhaltige Düngemittel vorschreiben.

Mit der Umstellung auf E-Fahrzeuge werden Akkus günstiger – und damit auch Energiespeicher für das Stromnetz.
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Der einfache Mechanismus: Je mehr von einem Produkt hergestellt wird, desto günstiger – und besser – wird es. Ab einem bestimmten Punkt setzt es sich von selbst durch. Die Verfassenden der Studie werfen dabei einen Blick in die Vergangenheit: Kühlschränke, Autos, Klospülung – vieles war am Anfang teuer und kaum verbreitet, setzte sich ab einem bestimmten Zeitpunkt geradezu explosionsartig durch. Wright's Law oder Lernkurve nennen Betriebswirte diesen Umstand.

Kipppunkt bei Energie bereits nahe

In einigen Bereichen ist dieser Kipppunkt bereits nahe – etwa in der Stromproduktion. In vielen Regionen der Erde ist Wind- und Solarstrom bereits die günstigste Form der Energieproduktion, in den nächsten Jahren werde das an immer mehr Orten der Fall sein, heißt es in dem Bericht. Die Stromproduktion sehen die Autorinnen und Autoren deshalb nicht als "Superhebelpunkt".

Denn die Förderung erneuerbarer Energien sei bereits voll im Gange, sagt Tim Lenton, der an der University of Exeter das Global System Institute leitet und an der Studie beteiligt war. Inzwischen sind 75 Prozent der neu hinzugefügten Energieproduktion erneuerbar. Dennoch sei es wichtig, die Planungs- und Genehmigungszeiten zu verkürzen.

Untersucht wurden auch die Zusammenhänge zwischen diesen Kipppunkten: Sie könnten regelrechte Kettenreaktionen von Kippeffekten auslösen. Batterien werden einerseits für E-Autos gebraucht, sorgen aber auch im Stromnetz dafür, dass bei Dunkelheit und Flauten das Licht nicht ausgeht. Wenn Regierungen Gesetze beschließen, die E-Autos fördern, sinkt der Preis für Akkus – was wiederum auch Energiespeicher für das Stromnetz günstiger macht.

Seit 2010 sind die Preise für Akkus aufgrund des E-Auto-Booms um rund 90 Prozent gesunken. Eine Kilowattstunde Stromspeicher kostet derzeit rund 130 US-Dollar, bis 2023 soll der Preis auf 110 US-Dollar sinken. Im gleichen Jahr werde auch der Punkt erreicht sein, an dem in den Vereinigten Staaten Photovoltaik in Verbindung mit Batteriespeichern günstiger sein wird als Strom aus Erdgas.

Alternative Proteine

Einer Schlüsselrolle kommt dem Staat auch bei der Etablierung alternativer Proteine zu, die tierische zunehmend ersetzen sollen. Derzeit bestehen Fleischersatzprodukte vor allem aus Pflanzen, künftig könnten sie auch mittels Fermentation oder durch die Zellkultivierung – oft "Laborfleisch" genannt – hergestellt werden.

Regierungen müssten nicht nur in die Entwicklung von Fleischalternativen investieren, sondern diese auch selbst nachfragen. Lenton schlägt etwa vor, dass Krankenhäuser verstärkt alternative Proteine servieren könnten. Immerhin ist die öffentliche Hand in der EU und im Vereinigten Königreich für rund fünf bis sechs Prozent der Ausgaben für Lebensmittel verantwortlich.

Die politischen Interventionen könnten dazu beitragen, dass alternative Proteine im Jahr 2035 bereits 20 Prozent des Fleischmarkts ausmachen. Gleichzeitig könnten durch den abnehmenden Fleischkonsum 400 bis 800 Millionen Hektar Anbaufläche frei werden, das sind rund sieben bis 15 Prozent der globalen landwirtschaftlich genutzten Fläche. Das könnte auch die Emissionen aus der Abholzung von Wäldern mindern – eine der größten Quellen von Treibhausgasen.

Regierungen könnten eine Vorreiterrolle einnehmen, indem sie alternative Proteine – etwa Fleischersatzprodukte – einkaufen.
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Entscheidend dafür, ob die Welt sich von Kohle, Öl und Gas entwöhnen kann, ist auch Wasserstoff. Dieser wird anfangs teuer, knapp und kostbar sein – und jeder Einsatz wohlüberlegt. In dem Bericht wird vorgeschlagen, aus dem grünen Wasserstoff zunächst Ammoniak herzustellen. Die Grundchemikalie wird vor allem in der Düngerproduktion verwendet, der für den chemischen Prozess benötigte Wasserstoff in der Regel aber klimaschädlich aus Erdgas gewonnen.

Dass Regierungen ausgerechnet nachhaltig produziertes Ammoniak fördern sollten, begründen die Fachleute damit, dass dieses derzeit nur um die Hälfte teurer ist als aus Erdgas gewonnenes. Das ist vergleichsweise wenig: Würde man den Wasserstoff zu synthetischem Kerosin verarbeiten, wäre das Endprodukt derzeit rund drei- bis neunmal teurer als fossiles Flugbenzin.

Da für die Produktion von Ammoniak neben Wasserstoff und Energie nur Stickstoff aus der Luft benötigt wird, lasse sich dieser überall dort herstellen, wo genügend erneuerbare Energie verfügbar ist, heißt es in dem Bericht. Im Gegensatz zu reinem Wasserstoff lässt sich Ammoniak zudem kostengünstiger transportieren.

Die Düngerproduktion ist derzeit für rund zwei Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich.
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Kettenreaktion durch Wasserstoff

Konkret schlagen die Autorinnen und Autoren vor, eine Beimengung von 25 Prozent an nachhaltigem Dünger verpflichtend zu machen. Die Düngemittelproduktion ist derzeit für nur rund zwei Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Indem die Politik nachhaltigen Dünger fördert, soll die Wasserstoffproduktion angekurbelt werden, der dadurch eintretende Preisverfall soll nachhaltigen Wasserstoff auch in anderen Bereichen attraktiv machen.

Diese sind für wesentlich mehr CO2 verantwortlich: Die Stahlindustrie trägt etwa mit sieben Prozent der globalen Emissionen zum Klimawandel bei. Die Schifffahrt, die drei Prozent der Treibhausgase verursacht, könnte ebenso von Wasserstoffsprit profitieren wie die Luftfahrt, die zwei Prozent beiträgt.

Danach gefragt, ob Regierungen die Maßnahmen über Verbote oder Anreize umsetzen sollen, antwortet Lenton, dass "die Karotte meistens besser als die Peitsche" funktioniere. Manchmal würden aber auch strenge Regulierungen wie etwa CO2-Steuern oder das Verbot von Verbrennungsmotoren helfen, die Kettenreaktion aus Kipppunkten anzustoßen. (Philip Pramer, 20.1.2023)