Im Community-Artikel schildert Oleh Hlazkov seine Erlebnisse während eines Besuchs bei seiner Familie in der Ukraine.

Man fährt im bis auf den letzten Platz besetzten Bus von Wien nach Kiew, schöne und friedliche Landschaften fliegen am Fenster vorbei: Zwischenstopp in Budapest. Der Bus überquert die Grenze, die Grenzbeamten kommen herein und kontrollieren die Reisepässe, vornehmlich jene der männlichen Fahrgäste. Obwohl ich aus der Ukraine komme, darf ich mit meiner österreichischen Staatsbürgerschaft ein- und ausreisen.

Der Bus setzt seine Fahrt zielstrebig fort, und die Fahrgäste sehen nun Blockposten, Panzerigel und zerstörte Gebäude. Man empfindet den Druck in Echtzeit, man sieht die neue Realität eins zu eins, nicht nur auf dem Bildschirm des Handys. Mir wird klar: Ich fahre nicht ganz einfach über Weihnachten nach Hause zu meinen Eltern, sondern ich fahre in mein Land im Krieg.

Das Zentrum von Tschernihiw, meiner Heimatstadt.
Foto: Oleh Hlazkov

Ich fahre nach Norden, in meine Heimatstadt Tschernihiw. Diese Stadt wurde zu einer Festung während des Marschs des russischen Aggressors nach Kiew. Sie selbst fiel nicht unter der Besatzung, wurde aber durch Artilleriebeschuss schwer beschädigt. Die heftigen Kämpfe in der Stadt und um sie herum dauerten von 24. Februar bis circa Mitte April. "Damals war Tschernihiw eine Geisterstadt. Frauen mit Kindern und ältere Menschen waren rund um die Uhr im Schutzkeller", erzählt mir mein älterer Bruder. Seit April sind mittlerweile acht Monate vergangen.

Theaterbesuch und Bombenalarm

Am Tag nach meiner Ankunft gehe ich mit meinen Nichten ins Theater. Auch in Friedenszeiten besuchten wir immer das Theater. Man zeigt die Kindervorstellung "Aschenputtel". In dem kalten Innenraum des Theaters mit den dunkelrot bezogenen Stühlen sitzen viele Erwachsene mit ihren Kindern, denen sie auch in dieser Weihnachtszeit ein Stück normalen Lebens, ein wenig glückliche Kindheit schenken möchten, die am 24. Februar 2022 so abrupt durch den russischen Überfall unterbrochen wurde.

Aber auch die magische Märchenwelt auf der Bühne wird durch einen Bombenalarm unterbrochen, und alle gehen diszipliniert und unaufgeregt in den für diese Zwecke ausgestatteten Keller. In Tschernihiw kennt man den Krieg und seine Regeln. Ich allerdings bin mit diesen vielen Theaterbesuchern und Theaterbesucherinnen zum ersten Mal in einem Schutzkeller. Es ist unklar, wie lange der Luftalarm dauern wird. Mir fällt auf, dass die Kinder die magische Welt der Bühne samt der Magie ihrer Kinderwelt mit in den Keller genommen haben. Sie spielen die immerwährenden und weitverbreiteten Spiele: "Himmel und Hölle" wird im Theaterkeller improvisiert.

Nach vierzig Minuten kommt die Entwarnung, alle gehen rauf, und das Märchen auf der Bühne geht nahtlos weiter, Aschenputtel darf endlich Prinzessin sein. Die Schauspieler und Schauspielerinnen sind bewundernswert in ihrer Professionalität, geben ihr Bestes. Es herrscht Endzeitstimmung – Titanic on stage –, als ob die Märchendarsteller und Märchendarstellerinnen zum letzten Mal spielen würden. Ob das Schiff am Sinken ist – was weiß man schon? Schließlich kamen bei der Attacke auf das Theater von Mariupol im März 2022 mehrere hundert Menschen ums Leben, die dort Schutz vor den russischen Angriffen gesucht hatten.

Den Widerstand am Friedhof ablesen

Einen Tag nach Weihnachten zeigt mir mein Bruder die Wunden des Krieges auch am Zustand des städtischen Friedhofs. Seit 2014 verschieben sich dessen Grenzen rasant immer weiter. Der Grund sind die frischen Gräber für die vielen gefallenen jungen Soldaten und Soldatinnen und die vielen älteren Menschen, die seelisch und körperlich den Krieg nicht mehr ertragen konnten.

Der Friedhof, Ort des Widerstands.
Foto: Oleh Hlazkov

Kann es Zufall sein, dass gerade dieser Friedhof, der den ukrainischen Widerstand schlechthin symbolisiert, in genau diesem Bereich zerstört wurde? Ich sehe eine zerstörte Kapelle, die ein Vater für alle in diesem Krieg gefallenen Söhne errichten ließ, unzählige schwer beschädigte Gräber von Soldaten. Ich stehe in der Kälte und frage mich: Was ist den russischen Angreifern noch heilig?

Immer wieder bin ich überrascht von den Umgangsformen meiner Landsleute in dieser schwierigen Zeit, sei es an einer Tankstelle, in einem Geschäft oder im Bus. Für mich ist diese Höflichkeit im Angesicht der Zerstörung rundum Ausdruck von Stil, Niveau und – Widerstand. (Oleh Hlazkov, 24.1.2023)