Manche sagen: So hat man Magnus Carlsen noch nie verlieren sehen. Das mag übertrieben klingen, aber schwer beeindruckend war der Triumph des erst 18-jährigen Nodirbek Abdusattorov über den regierenden Weltmeister schon. Es war die erste Begegnung der beiden Spieler im klassischen Schach, die 14 Lebensjahre und eine Menge Erfahrung voneinander trennen. Und sie war mehr als gespannt erwartet worden: Hatte Abdusattorov seinem Gegner doch bereits 2021 den WM-Titel im Schnellschach weggeschnappt, den Carlsen sich Ende 2022 wieder zurückholte und dabei auch im direkten Duell mit dem Teenager siegreich blieb.

Geometrische Feinheiten

Nicht so 2023 beim "Wimbledon des Schachs": In einer Englischen Symmetrievariante nahm der Norweger mit den weißen Steinen früh Risiko, indem er eine Qualität ins Geschäft steckte, um seinen Gegner schwarzfeldrig zu schwächen. Abdusattorov jedoch zeigte sich beeindruckend unbeeindruckt. Der junge Mann rochierte locker lang, gab am Königsflügel einen Bauern und sicherte sich Spiel auf der nun offenen g-Linie gegen Carlsens König, während das Läuferpaar des Weltmeisters keinen rechten Biss entwickelte.

Nach Abwicklung in ein Damenendspiel mit Mehrbauer konnte der Schwarze dann risikolos auf den vollen Punkt losgehen. Und diesmal blieb Carlsen seine gewohnte Endspiel-Präzision schuldig. Die geometrischen Feinheiten, die sich aus der offenen Stellung der beiden Monarchen bei gleichzeitiger Anwesenheit der zwei stärksten Figuren am Brett ergaben, waren selbst dem Weltmeister zu hoch, der sich nach 60 Zügen geschlagen geben musste: Bald darauf hätte ein bereits bis nach b2 aufgerückter schwarzer Bauer Nodirbek Abdusattorov eine zweite Dame beschert.

Schach in der Cruyff-Arena

Der wohl historische Schwarzieg Abudsattorovs, der im selben Jahr geboren wurde, in dem Magnus Carlsen selbst zum ersten Mal in Wijk aan Zee antrat, spielte sich übrigens gar nicht vor Ort ab – sondern im Fußballstadion von Ajax Amsterdam, der Johan-Cruyff-Arena. Schon seit einigen Jahren geht das Tata Steel Chess Masters in einer seiner 13 Runden gleichsam auf Tour an einen sonst nicht mit Schach assoziierten Spielort. Oftmals ist die abseits der Nordsee ausgetragene Runde besonders ergiebig, und diesmal hätte sich der Ausflug schon alleine für die geschilderte Partie gelohnt.

Dass Lewon Aronjan der deutschen Hoffnung Vincent Keymer mit feiner Endspieltechnik keine Chance ließ, Parham Maghsoodloo heftig opferte, um Jorden Van Foreest zu bezwingen und auch die Remisen zwischen Caruana und So sowie Erigaisi und Ding ordentlich Pfeffer hatten, wird die Organisatoren wohl darin bestärken, den Ortswechsel auch in den kommenden Jahren im Programm zu behalten.

Nodirbek Abdusattorov gegen Magnus Carlsen in der Johan-Cruyff-Arena.
Foto: APA/EPA/VAN WEEL

Nicht, dass es zuvor langweilig gewesen wäre. Denn Magnus Carlsen, der bisher nur in Runde zwei gegen Vincent Keymer gewann, hatte bereits in Runde vier eine so überraschende wie empfindliche Niederlage quittieren müssen: Ausgerechnet gegen Lokalmatador Anish Giri, mit dem Carlsen seit vielen Jahren eine meist via Twitter ausgetragene Rivalität verbindet, schraubte der Norweger mit den schwarzen Steinen spielend das Risiko viel zu hoch. Genau darauf hatte der Niederländer gelauert. Die Nummer sieben der Weltrangliste hatte gegen den Weltmeister bisher erst ein einziges Mal in einer klassischen Partie gewonnen – und das war 2016. Wie sehr sich Weltklassemann Giri über seinen zweiten Sieg gegen Carlsen freute, den er als eine der größten Leistungen seiner Karriere bezeichnete, macht erst richtig verständlich, wie hoch die Leistung Nodirbek Abdusattorovs einzuschätzen ist.

Ein langes Turnier

Denn Magnus Carlsen verliert sonst sehr, sehr selten. Dass der Weltmeister in zwei aufeinanderfolgenden Runden eines Turniers mit langer Bedenkzeit die Hand zur Aufgabe reichen muss, das hatte es – die Statistiker gruben es schnell aus – zuletzt 2015 gegeben.

Aber: Wijk aan Zee ist ein langes Turnier. Den Rekordsieger Carlsen abzuschreiben, nur weil er nach fünf Runden mit enttäuschenden zwei Punkten auf Platz zehn liegt, wäre alles andere als weise. Und auch für Abdusattorov, der neben Carlsen auch noch Richard Rapport und Parham Magsoodloo bezwang, ist an der Nordsee noch lange nichts gewonnen. Erst nach 13 Runden wird in Wijk abgerechnet, und neben dem Führenden rangieren derzeit auch Giri mit 3,5, sowie Caruana, Aronjan und der 17-jährige indische Jungstar Pragnanandhaa mit je drei Punkten im Plus. Letzterer hatte in Runde vier den chinesischen WM-Kandidaten Ding Liren besiegt und damit ein weiteres Indiz dafür geliefert, dass der lang angekündigte Generationswechsel im Spitzenschach nun wirklich vor dem Vollzug steht.

Wimmelbild im Umfeld des Tata Steel Chess.
Foto: IMAGO/Olaf Kraak

Am Ruhetag zwischen den Runden vier und fünf wurde übrigens – auch das hat in Wijk Tradition – gemeinsam Fußball gespielt. Das von Magnus Carlsen angeführte Team trennte sich von einer Mannschaft, der Altmeister Loek van Wely als Kapitän vorstand, 3:3 unentschieden. Selbst auf dem Rasen der Johan-Cruyff-Arena wollte dem auch beim Fußball immer ehrgeizigen Schachweltmeister diesmal also kein Sieg gelingen.

WM in Astana

Noch eine weitere Überraschung gab es am Donnerstag. Der Weltschachbund Fide gab nach langem Zögern endlich den Austragungsort des kommenden WM-Zweikampfs zwischen Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren bekannt: Zwischen 7. April und 1. Mai wird der neue Weltmeister im klassischen Schach in Kasachstans Hauptstadt Astana ermittelt werden, nachdem Magnus Carlsen auf sein Recht, den Titel ein weiteres Mal zu verteidigen, verzichtet hat. Die Wettkampfbörse von zwei Millionen Euro wird von der Investmentfirma Freedom Finance aufgebracht, die dem kasachischen Finanzunternehmer Timur Turlov gehört. Turlov beziehungsweise seine Firmengruppe hatte Ende Dezember bereits die Schnellschach- und Blitz-WM in Almaty gesponsert. (Anatol Vitouch, 20.1.2023)