Das Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah am Judenplatz in Wien. Entworfen wurde das Mahnmal von der britischen Künstlerin Rachel Whiteread.

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Helmut Rizy, "Überleben – um Zeugnis abzulegen. Essays zur KZ-Literatur". Zwei Bände. € 21 (25) / 516 (536) Seiten. Wieser-Verlag, Klagenfurt 2021, 2022.
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Zeugnis zu geben aus der Unmittelbarkeit des Erlebten, darunter hat man früher "Lagerliteratur" verstanden. Mit der Zeit formte sich eine über die Grenzen des Dokumentarischen hinausgehende Literaturgattung, die in sich wiederum mehrere Textsorten umfasst: von heimlich im Ghetto geschriebenen Gedichten und Tagebüchern, autobiografischen Berichten nach der Befreiung bis hin zu essayistischen Reflexionen und Geschichtsromanen, in denen das Zeugnishafte von Literarisierung überlagert wird.

Weil sich diese Literatur nicht eindeutig abgrenzen und auch nicht leicht überblicken lässt, erscheint der eigentlich junge Begriff Holocaustliteratur bereits umstritten. Überdies sind all die ihr zuordenbaren Texte als eigenes Phänomen noch nicht einmal ausreichend erforscht, abgesehen davon, dass eine fundierte Auseinandersetzung mehrere Disziplinen erfordert, ist die Holocaustliteratur doch ein Feld für Literaturwissenschafter, Historiker, Soziologen.

Henryk Grynberg, "Kinder Zions. Dokumentarische Erzählung". Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann. Nachwort von Ewa Czerwiakowski und Lothar Quinkenstein. € 24,70 / 192 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022.

Überleben

Einen ersten wirklich umfassenden Versuch hat nun Helmut Rizy unternommen. Seine zweibändige, im Wieser-Verlag erschienene essayistische Dokumentation mit dem Titel Überleben – um Zeugnis abzulegen bietet als wertvolles Handbuch auf mehr als 1000 Seiten Querschnitte durch bekannte und weniger bekannte Bücher der KZ-Literatur.

Rizy hat lange Zeit als Journalist gearbeitet und mit einigen Romanen auf sich aufmerksam gemacht, besonders mit seinem Roman Hasenjagd im Mühlviertel, der die Ermordung von ungefähr 500 russischen Häftlingen zum Thema hat. Ein nicht nur in der österreichischen Zeitgeschichte signifikantes Ereignis, denn damals, beim Ausbruchsversuch aus dem KZ Mauthausen im Februar 1945, hatte sich ein Teil der örtlichen Bevölkerung aktiv an der Verfolgung beteiligt, einige wurden dabei selbst zu Mördern. Was Menschen dazu bringt, sich mitschuldig zu machen, ist die grundsätzliche Frage im Holocaust, der zwar von "oben" angeordnet wurde, aber ohne das Mitwirken von "unten" nie hätte funktionieren können.

Leon Weintraub / Magda Jaros, "Die Versöhnung mit dem Bösen. Geschichte eines Weiterlebens". € 26,80 / 292 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022.
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Frühe Zeugnisse

Jahrelang hat sich Rizy eingehend mit der Lektüre jener Werke beschäftigt, die heute einen beeindruckenden Kanon bilden, aber oft nur am Rande wahrgenommen wurden. Dabei handelt es sich um früheste Zeugnisse, die noch während der NS-Zeit verfasst wurden, um nach der Befreiung aufgezeichnete Erinnerungsliteratur, manchmal lineare Nacherzählungen des Erlebten, und um freie, literarische Aufarbeitungen. Einen Überblick darüber zu verschaffen scheint ein schwieriges Unterfangen, aber Rizy ist nichts weniger als das erste umfassende Kompendium zu dieser Literatur gelungen, ein Standardwerk, an dem kein Historiker und Literaturwissenschafter künftig vorbeikann. Für seine Betrachtungen hat Rizy mehr als 200 Zeugnisse dokumentarischer und belletristischer Art herangezogen. Eine wahre Mammutaufgabe, die man nicht hoch genug schätzen kann. Nacherzählend und reflektierend werden einzelne Werke nach bestimmten Gesichtspunkten in den Fokus gerückt. Von der Ankunft im Lager bis zu den Augenblicken der Befreiung und dem schwierigen Weg in die Normalität zurück, die es nicht mehr gab. Dazwischen finden sich Abhandlungen über Ärztinnen in Auschwitz, die Bedeutung der Musik im Lager, über Kinder in Bergen-Belsen oder die berühmte Goethe-Eiche im Lager Buchenwald – über sie hat nicht nur Joseph Roth wenige Tage vor seinem Tod noch geschrieben, der symbolhafte Ort kommt in mehreren Texten ehemaliger Häftlinge, bei Jorge Semprún, Imre Kertész, Ivan Ivanji und in Ernst Wiecherts Roman Der Totenwald, vor.

Anat Feinberg, "Die Villa in Berlin. Eine jüdische Familiengeschichte 1924–1934". € 26,80 / 232 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022
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Neben bekannten Darstellungen wie von Primo Levi, Jean Améry, Jura Soyfer, Fred Wander oder Ruth Klüger sind es großteils unbekannte Texte, die hier Beachtung finden. Etwa im Ghetto Theresienstadt entstandene Gedichte eines jungen tschechischen Autors namens Georg Kafka, eines weitschichtigen Verwandten Franz Kafkas. Oder die Erinnerungen der polnischen Schriftstellerin Zofia Posmysz, die in Auschwitz als Lagerschreiberin arbeiten musste, Zugang zu Schreibmaterial hatte und daraufhin Gedichte zu schreiben begann. "Fingerübungen", wie sie sie später bezeichnete, "Versuche, die eigene Hilflosigkeit zu verdrängen, und manchmal Verzweiflungsschreie". Posmysz hat im Gegensatz zu Kafka überlebt. Von ihm, der 1944 freiwillig seine Mutter nach Auschwitz begleitete, blieben nur wenige Manuskripte.

Sybille Steinbacher (Hg.), "25 Jahre Fritz Bauer Institut. Zur Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Verbrechen". € 15,40 / 82 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022
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Berichten, erzählen

Das Zeugnisablegen ist Grundmotiv dieser Literatur, sie ist eine gegen das Schweigen. Bezeichnend ist Primo Levis Bemerkung, dass die Häftlinge Angst hatten, es würde ihnen später einmal niemand glauben. In der Holocaustliteratur hat das Erzählen daher eine viel tiefere Bedeutung. Das zeigt sich besonders in Henryk Grynbergs dokumentarischer Erzählung Kinder Zions, die sich auf Berichte Überlebender stützt, nämlich jener polnischen Juden, die 1939 erst Opfer des deutschen Überfalls, der Brutalität der Wehrmacht und der Einsatzgruppen wurden und später als Geflüchtete sowjetischer Willkür ausgeliefert waren. Stalin ließ sie nach Sibirien und in die südlichen Sowjetrepubliken, nach Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan deportieren, wo Hunderttausende an Hunger, Seuchen und den Folgen von Zwangsarbeit starben. Von sowjetischem Exil kann man also schwerlich sprechen, denn die Juden, die den deutschen Vernichtungslagern entkommen waren, galten als "Klassenfeinde". Die, die die sowjetischen Lager überlebten, waren in erster Linie die "Kinder von Teheran", die 1943 dank jüdischer Hilfsorganisationen über Persien nach Palästina gelangten.

Selbst Überlebender des Holocaust, hat Grynberg deren Zeugnisse literarisch bearbeitet und neu zusammengesetzt. Dabei hat er sich an dem in Polen so bedeutenden Genre der Reportage als "essenzieller Erzählform" orientiert und mit dem Mittel der literarischen Montage aus über 70 Berichten eine vielstimmige Erzählung geschaffen. Sie wirkt formal fast avantgardistisch, denn Grynberg hat die Stimmen der Überlebenden zu einem intensiven authentischen Chor gebündelt und die Vielzahl gleicher Schicksale zu einer Variation des Leidthemas, einer Stereotypie des Grauens gestaltet. "Man verlud uns in dunkle Waggons. / Man verlud uns in fensterlose Waggons. / Man verlud uns in enge und dreckige Waggons." Im Zitieren ähnlicher, oft gleichlautender Sätze wird der Holocaust als kollektive Erfahrung festgeschrieben.

Désirée Hilscher, "Den Helden geschaffen. Fritz Bauers Rückkehr ins kollektive Gedächtnis". € 18,50 / 176 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022
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Erstaunliche Versöhnungsbereitschaft

Grynbergs "Erzählung" ist der mittlerweile dritte Band der herausragenden "Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur", die der Wallstein-Verlag seit 2021, gefördert vom Auswärtigen Amt der BRD, herausgibt. Überhaupt macht der Göttinger Verlag mit beachtlichen Editionen auf sich aufmerksam, die das Gedenken an den Holocaust literarisch und wissenschaftlich weiter vertiefen.

War das Schicksal der Kinder Zions die Verbannung, so ist Leon Weintraubs Geschichte seines Weiterlebens die der nationalsozialistischen Lagererfahrung. Weintraub, 1926 in Łódź geboren, hat das Ghetto in Litzmannstadt und anschließend das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Seine Erinnerungen mit dem Titel Die Versöhnung mit dem Bösen hat die polnische Journalistin Magda Jaros aus während der Corona-Pandemie geführten Videogesprächen aufgezeichnet. Sie zeugen von erstaunlicher Versöhnungsbereitschaft, umso mehr, als der Überlebende später noch einmal Opfer antisemitischer Verfolgung wurde. Während der judenfeindlichen Unruhen in Polen verlor Weintraub 1969 seine Stelle als Oberarzt in einer Frauenklinik und emigrierte mit seiner Familie nach Schweden. Auch Grynberg, der heute in den USA lebt, zog es damals vor, Polen zu verlassen.

Filip Gańczak, "Jan Sehn und die Ahndung der Verbrechen von Auschwitz. Eine Biografie". Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein. € 26,80 / 238 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022

Unterschiedliche Perspektiven

Finden wir bei Grynberg und Weintraub die Welt des Ostjudentums geschildert, leuchtet in Anat Feinbergs Familiengeschichte Die Villa in Berlin die großbürgerliche jüdische Kultur in Deutschland wieder auf, freilich beschränkt auf die Zeit bis 1934. In diesem Jahr sind die ursprünglich aus Schweden und Litauen stammenden Grüngards rechtzeitig dem Holocaust entflohen. Die in Tel Aviv geborene Autorin erzählt aus der Enkelperspektive, wobei sie die Geschichte ihrer Familie erst recherchieren musste, in Archiven in Deutschland, Israel, Polen und Schweden.

Das alte Zuhause wurde aus den Quellen rekonstruiert, dabei traten nicht nur unbekannte familiäre Verbindungen, sondern ein gesellschaftliches Milieu, die goldenen Zwanzigerjahre, zutage. Ohne jüdische Kultur wäre Berlin damals nicht eine der modernsten Metropolen gewesen. Das hat auch die Familie geprägt, doch über die "Berliner Jahre" wurde in Tel Aviv nicht gesprochen – Anat Feinberg, die Enkelin, hat all das erst wiederentdecken, wenn nicht überhaupt neu erfinden müssen. Ihre Familiengeschichte ist eine Geschichte der Entwurzelung, des Neubeginns, hinter dem das alte Leben zurückblieb.

Alyn Beßmann u. a. (Hg.), "NS-Verfolgte nach der Befreiung. Ausgrenzungserfahrungen und Neubeginn". € 18,50 / 264 Seiten. Wallstein-Verlag, 2022
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Die Aufarbeitung des Holocaust war zunächst in erster Linie eine juristische Angelegenheit, um die in Deutschland lange gerungen werden musste. Zentrale Figur ist Fritz Bauer, der 1949 aus dem Exil in Schweden nach Deutschland zurückkehrte und als Generalstaatsanwalt in Frankfurt treibende Kraft in der Verfolgung von NS-Verbrechen war. Auf seine Weisung hin wurde 1959 ein Ermittlungsverfahren gegen Auschwitz-Täter eingeleitet, was schließlich zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen führte – trotz etlicher Widerstände, denn vonseiten der Justiz und Politik wurde Bauers Arbeit immer wieder behindert, in der breiten Bevölkerung fand sie noch weniger Anklang.

NS-Verbrechen im Fokus

Erst spät wurde der Jurist zum Gegenstand der Public History und seine Leistung für die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust anerkannt und gewürdigt. Das 1995 gegründete Fritz-Bauer-Institut beschäftigt sich heute mit der Geschichte und Wirkung der Shoah. Aus Anlass des Jubiläums im Jahr 2020 entstand die schmale Publikation 25 Jahre Fritz Bauer Institut, in der die Bedingungen und Formen der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen diskutiert werden. Wer sich näher mit Fritz Bauer und seiner verdienstvollen Geschichtsarbeit beschäftigen möchte, dem sei Désirée Hilschers handliche Monografie Den Helden geschaffen anempfohlen. Sie zeigt, wie Fritz Bauer, der als moralische Instanz im Nachkriegsdeutschland schnell in Vergessenheit geriet, in den letzten Jahren wieder "ins kollektive Gedächtnis" zurückkehrte.

Michael Wildt / Sybille Steinbacher, "Fotos im Nationalsozialismus. Neue Forschungen zu einer besonderen Quelle". € 20,60 / 198 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022
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Eine wichtige Rolle für die Frankfurter Auschwitz-Prozesse spielte auch der Pole Jan Sehn, mehr noch war er aber für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Polen maßgeblich, wo Sehn, übrigens ein Deutschstämmiger, bis heute als "Nazijäger" bekannt ist, gleichsam der polnische Fritz Bauer. Obwohl selbst von nationalsozialistischer Verfolgung verschont geblieben, stellte er sich nach 1945 in den Dienst der Sache, suchte Zeugen, sammelte belastendes Material und verhörte als Vorsitzender der Bezirkskommission zur Untersuchung deutscher Verbrechen in Krakau hochrangige Täter wie Rudolf Höß oder Amon Göth.

Auf seine Initiative hin begab sich die Gerichtsdelegation aus Frankfurt zur Ortsbesichtigung nach Auschwitz. Sehns Biografie gibt einen tiefen Einblick in die Untersuchungen und Aufdeckungen von NS-Verbrechen, die ein enggesponnenes Netz zwischen Auschwitz und Frankfurt, zwischen kommunistischen Behörden in Polen und Vertretern des amerikanischen Militärs, mitten im Kalten Krieg, ermöglichte.

Felicitas Heimann-Jelinek / Hannes Sulzenbacher, "‚Ausgestopfte Juden?‘ Geschichte, Gegenwart und Zukunft jüdischer Museen". € 30,90 / 432 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022
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Das Leben danach

Um das Leben danach geht es auch in dem Sammelband NS-Verfolgte nach der Befreiung, ein Schicksal zwischen Repatriierung und Ausgrenzung, das viele Überlebende des Holocaust, eine ganze Lagergeneration teilte. Hingewiesen sei auch noch auf zwei weitere Bücher im Wallstein-Verlag: Fotos im Nationalsozialismus analysiert mit neuen Forschungen das Problematische einer Quelle im Spannungsfeld von Täter und Opfer. Und wie man jüdische Geschichte nach dem Holocaust überhaupt präsentieren kann und soll, damit setzt sich der museumspädagogische Band ,Ausgestopfte Juden?‘ auseinander, geht es doch – umso mehr nach der Erfahrung der Shoah – nicht nur um die Vermittlung, sondern auch um die Definition dessen, was "jüdisch" bedeutet. (Gerhard Zeillinger, 27.1.2023)

Gerhard Zeillinger, geb. 1964, ist Historiker, Literaturwissenschafter und Autor. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Überleben. Der Gürtel des Walter Fantl" (Kremayr & Scheriau).
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