Fast das gesamte deutsche Regierungskabinett reiste zu dem Treffen nach Paris.

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Paris – Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordern eine selbstbewusstere Rolle der EU in der Welt. "Womöglich stehen wir vor einer noch viel größeren Zeitenwende. Einer Zeitenwende hin zu einer multipolaren Welt, der wir nicht mit dem Rückzug ins nationale Schneckenhaus begegnen können", sagte Scholz am Sonntag in Paris bei der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages, dem sogenannten Elysée-Vertrag.

Man könne sich "kein kleines, verzagtes Europa" mehr leisten, das sich nationalen Egoismen hingebe und Gräben aufreiße zwischen Ost und West, Nord und Süd. Beide betonten unter starkem Applaus, dass die EU ihre Unterstützung für die Ukraine gegen den russischen Angreifer fortsetzen werde. "Putins Imperialismus wird nicht siegen", sagte Scholz.

Vorreiterrolle angestrebt

Zu den Feierlichkeiten zum Jahrestag kamen in Paris die Kabinette und Parlamente beider Länder zusammen. Deutschland und Frankreich müssten Vorreiter bei der Neugründung Europas sein, forderte Macron. Er verwies darauf, dass sich die EU bei einem Treffen in Versailles vergangenen März bereits vorgenommen habe, strategische Abhängigkeiten in den Bereichen Energie, Militär oder Nahrungsmittel zu verringern. Es bleibe aber viel zu tun. Der deutsche Kanzler verwies auf die nötige Erweiterung der EU und das erforderliche Zurückdrängen des Veto-Rechts bei Entscheidungen innerhalb der Union.

Macron und Scholz erwähnten auch den europäischen Aufbaufonds mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro, der zur Überwindung der Folgen der Corona-Pandemie vereinbart worden war. Mit Blick auf die französische Forderung, nun einen neuen Solidaritätsfonds nachzuschieben, fügte der französische Präsident hinzu, dass die EU verantwortlich sei "für unsere Entscheidungen, die wir treffen und unsere Entscheidungen, die wir nicht treffen". Scholz hat Vorbehalt gegenüber einem neuen Fonds und hatte erst vor wenigen Tagen darauf verwiesen, dass erst 20 Prozent der Summe im Solidaritätsfonds überhaupt ausgezahlt worden seien.

Immer wieder Differenzen

Der deutsche Kanzler spielte zudem Meinungsverschiedenheiten zwischen Paris und Berlin in einer Reihe von Fragen herunter. "Der deutsch-französische Motor ist eine Kompromissmaschine – gut geölt, aber zuweilen eben auch laut und gezeichnet von harter Arbeit", betonte er. "Seinen Antrieb bezieht er nicht aus süßem Schmus und leerer Symbolik. Sondern aus unserem festen Willen, Kontroversen und Interessenunterschiede immer wieder in gleichgerichtetes Handeln umzuwandeln."

Es sei normal, dass es wegen unterschiedlicher Strukturen der Politik und Wirtschaft sowie anderen historischen Erfahrungen immer wieder Differenzen zwischen beiden Ländern gebe, fügte der deutsche Kanzler mit Blick auf Meinungsverschiedenheiten etwa in der EU-Finanz- und Industriepolitik hinzu. Gerade deshalb seien Lösungen aber auch für andere in der EU akzeptabel. "Nur mit dem anderen an unserer Seite – als Freund und engstem Partner, als couple fraternel – hat auch unser eigenes Land eine gute Zukunft." In mehreren Reden in einem Festakt an der Pariser Sorbonne-Universität wurde die Aussöhnung beider Länder nach dem Zweiten Weltkrieg gelobt. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte vor wenigen Tagen in Berlin davor gewarnt, dass zwei Staaten die EU führen wollten.

Der deutsch-französische Ministerrat hatte eigentlich schon im Herbst vergangenen Jahres stattfinden sollen, war aber verschoben worden. Die Sitzung des deutsch-französischen Ministerrats wurde im Oktober überraschend abgesagt. Die deutsche Seite hatte das mit anhaltendem Abstimmungsbedarf begründet. Aus dem Élyséepalast hieß es damals, die wichtigen Themen Verteidigung und Energie müssten noch weiter diskutiert werden. Deutschland hat nur mit Frankreich Treffen der gesamten Kabinette beider Länder vereinbart. Das gesamte Kabinett war bis auf Arbeitsminister Hubertus Heil nach Paris geflogen. (APA, Reuters, 22.1.2023)