Holpernd sucht ein Pubertierender seinen Platz, während die Erwachsenen reichlich mit sich selbst befasst sind: im neuen Buch des Vorarlberger Autors Michael Köhlmeier.

Peter-Andreas Hassiepen

Eineinhalb Jahre ist es her, da schickte Michael Köhlmeier auf über 900 Seiten einen kleinen orangen Kater namens Matou durch die Weltgeschichte. Ein Opus magnum von der Französischen Revolution über das koloniale Afrika und das New York zur Zeit der Pop-Art bis ins Wien der Gegenwart. Die enorme Zeitspanne garniert mit einem ausufernden Figurenpersonal. Größer könnte der Kontrast zu seinem heute erscheinenden, neuen Roman Frankie nicht sein.

Die Handlung entwickelt sich im kleinsten Kreis, Köhlmeier schildert eine seltsame Großvater-Enkel-Geschichte, erzählt aus der Sicht des 14-Jährigen, die beginnt, als Frank und seine Mutter den Großvater aus dem Gefängnis abholen. Über das, was der vor 18 Jahren verbrochen hat, wollen die Erwachsenen nicht reden. Nur so viel: Es ist so schrecklich gewesen, dass der Großvater und Franks Mutter daraufhin ihren Namen geändert haben und Franks Vater die Familie verlassen hat.

Frank hat seinen Großvater seit einigen Jahren nicht mehr besucht. Jetzt knackt der Alte ein paar Tage in Wien bei ihnen auf der Couch, ehe er in eine vom Staat gestellte Wohnung zieht. Frank beweist im Umgang mit ihm stupende Nachsicht. Denn der Mann aus dem Knast trägt den Knast noch in sich. In guten Momenten bringt er Frank Schach bei. In schlechten ist ruppig für sein von Gefängnisscham und offener Aggressionsstörung gezeichnetes Verhalten ein Hilfsausdruck.

Schieß doch

Sogar von Handgreiflichkeiten lässt Frank sich aber nicht verprellen, sondern haut eines Nachts mit dem Alten ab. Die Spritztour führt mit einem geknackten Auto aus der Stadt hinaus, denn auf Autobahnraststätten soll es, heißt es, immer das beste Frühstück geben.

Köhlmeier kann erzählen. Die Szenen organisiert er nach dem Motto Wechselbad der Gefühle. Verlässlich kippt, sobald sich eine provisorische Harmonie zwischen Enkel und Großvater stellt, die Stimmung. Im einen Moment baut der Großvater aus an der Raststätte gekauften und mit unerwarteter Umsicht ihrer Plastikverpackungen entledigten Decken ein weiches Bett auf die Autorückbank, im nächsten drückt er Frank eine Pistole in die Hand und fordert ihn auf, zu schießen.

Frank und die Leser liegen vor dem Großvater gleichermaßen auf der Lauer. Die Geschichte hält die Spannung bis zum nach 200 Seiten abrupten Ende. Zu viel Inhalt darf man deshalb nicht vorwegnehmen. Ob es richtig übel oder doch nur wahnwitzig ausgeht, bleibt der Fantasie der Leser überlassen. Köhlmeier lässt viel offen und streut Hinweise.

Nicht heutig

Zu den vielen offenen Fragen gesellt sich auch die, wer Zielgruppe für Frankie sein mag. Eine neue Beziehung der alleinerziehenden Mutter zu einem verheirateten Mann – das dreht die Geschichte auch nicht zum für Menschen jenseits von 15 Jahren spannenden Plot. Obwohl nicht als Jugendbuch deklariert, wird man den Eindruck nicht los, Frankie ist mehr ein solches, als es zugeben mag. Wird Franks Kinderperspektive für Erwachsene auf Dauer dröge, muss sie für Tiktok-Teenager von heute wie aus einer längst zu Staub zerfallenen Zeit wirken.

Frankie ist alles andere als heutig. Unzählige Seiten vergehen, und noch immer hat Frank nicht auf sein Handy geschaut. Social Media? Fehlanzeige. Dafür macht er sich "im Netz kundig" oder tippt etwas "in den Google" ein. Den Sportwagen seines Vaters, von dem Frank seit Jahren nichts gehört hat und dem er über den Weg laufen wird, wobei die beiden nicht besser als ungelenk miteinander umzugehen wissen, nennt Frank ein "prächtiges Stück, fürwahr". Will er sich informieren, schaltet er Ö1 oder die ZiB 2 ein. Soll man solche Formulierungen und Schilderungen dem Roman als Unzulänglichkeiten ankreiden? Als unzutreffende Vorstellungen eines Autors, der im selben Alter ist wie sein Romangroßvater? Aber würden einem Köhlmeier solche Fehler unterlaufen? Wohl kaum.

Unbekannte Wildheit

In dieser kleinen, hoch konzentrierten Fingerübung treffen verschiedenste Motivationen und Nöte aufeinander. Franks Mutter ist Kostümschneiderin an der Oper, ihren Sinn für Kleider und Vollbäder hat sie dem Bub vererbt. Beide scheinen ein Herz und eine Seele. Allmählich scheint es aber, dass Frank trotz allem so am Großvater festhält, weil mit dem eine unbekannte Wildheit in seine Welt tritt.

Alle Männerrollen sind in Frankie auf je andere Art problematisch. Erziehungsratgeber mögen das im Detail ausdeuten. Köhlmeier erzählt, geschult an Sagen wie Popkultur, eine Coming-of-Age-Geschichte, die Grundlegenderem auf der Spur ist als den Bedingungen heutigen Jungseins. Dann kriegt Frankie etwas von alten Ganoven- und Cowboyfilmen. Das Motto "Go West" führt hier immerhin bis zu einem Parkplatz hinter Linz. Ein feiner Witz, an wen auch immer er sich richten mag. (Michael Wurmitzer, 23.1.2023)