Das Tinder-Symbol wird Lisa auf ihrem Handy-Bildschirm sobald nicht mehr sehen – die App hat ihr Konto gesperrt.
Foto: REUTER/Akhtar Soomro

Meine Freundin Lisa arbeitet als Chirurgin in einem oberösterreichischen Spital. Tag und Nacht versucht sie, die Opfer von Autounfällen zusammenzuflicken. Manchmal landen auf ihrem OP-Tisch auch von Kreissägen abgetrennte Finger. Vor kurzem kam sie nach Hause, duschte, zog einen alten Pyjama an, und plötzlich dämmerte es ihr. So konnte es nicht weitergehen: "Ich wollte endlich wieder einmal Sex", erzählt sie. "Gerne auch Liebe oder irgendwas dazwischen."

Check-in

Diesmal beschloss Lisa, aufs Ganze zu gehen. Das neue Jahr hatte die Draufgängerin in ihr aktiviert. Sie lud die Tinder-App auf ihr Mobiltelefon. Das hatte sie schon einmal getan, vor einer halben Dekade. Vorschnell hatte sie das kleine Quadrat damals wieder gelöscht, nach einem einzigen Date mit einem ungepflegten Musikkritiker. Jetzt wollte sie die Sache sportlicher angehen. Um ihr neues Profil zu erstellen, klickte sie sich durch gefühlt tausend Fragen. Unter den ersten hundert Männern, die ihr das Computerprogramm vorschlug, gefielen ihr zwei recht gut. Zuversichtlich klappte sie das Handy zu und schlief ein.

Schuldspruch

Gut gelaunt öffnete sie am nächsten Morgen ihren E-Mail-Account. Und siehe da, die oberste Nachricht war eine Information von Tinder. Deren Inhalt wiederholt Lisa für mich wie folgt: "Wir nehmen unsere Sicherheitsbestimmungen sehr ernst. Deshalb möchten wir Sie darüber informieren, dass Ihr Profil für immer gesperrt wurde. Sie können in Zukunft auch mit keinem anderen Account auf die Dienste unseres Unternehmens zugreifen." "Ich fühlte mich wie eine verurteilte Kriminelle", sagt sie.

Vorsicht, Avatar

Warum wurde meine Freundin von Tinder wie eine Trickbetrügerin abgestraft? Für immer gesperrt wie eine Spielsüchtige im Kasino? Als wären wir bei der Mordkommission, lassen wir die Tatnacht noch einmal Revue passieren und kommen zu folgendem Ergebnis: Im Zuge der Profilerstellung verlangte irgendeine künstliche Intelligenz von Lisa mehrere Livevideos. "Beweise, dass du ein Mensch bist!", hieß es da. Lisa sollte die Bewegungen eines Avatars nachmachen und sich dabei filmen lassen.

Halbherzig kam sie der Aufforderung nach: müde, mit Duschfrisur und Lesebrille, bei diffusem Licht im Bett lungernd. So wenig Engagement war zu viel für die Tinder-Polizei. Ein Abgleich der Videos mit ihren Profilfotos führte zum sofortigen Rausschmiss. "Das ist ein Omen", sagt Lisa. Sie bleibe ein analoges Girl. Auch in unserer digitalen Welt. (RONDO, Ela Angerer, 31.1.2023)