Anmerkung: Dieser Artikel wurde schon Ende Jänner im STANDARD veröffentlicht, anlässlich der aktuellen Vorfälle wird er noch einmal publiziert.

Das Ziel war klar – und zur Erreichung desselben jedes Mittel recht. Als die Leute des Wagner-Bataillons in die Strafkolonie kamen, habe das gut geklungen, sagt Oleg: Amnestie. Nur darum sei es ihm gegangen, als er zusagte, gegen die Ukraine in den Krieg zu ziehen.

Er hat die Gefängniskluft gegen eine Uniform getauscht – und die wiederum gegen eine Gefängniskluft. Denn jetzt sitzt Oleg in einem Kriegsgefangenenlager irgendwo in der Westukraine. Ein karger Bau: Schlafsäle, ein Fernsehzimmer, Werkstätten, in denen Papiersäcke geklebt und Bastmöbel gebaut werden.

Oleg: "Wagner gibt es, weil jemand Wagner braucht."
Stefan Schocher

Ein groß gewachsener, hagerer Mann Mitte 30 ist er, mit müden Augen. Er kennt den Trott, die Kommandos der Wärter – so, als habe er nie etwas anderes getan als mit gesenktem Kopf in Reih und Glied zu stehen. Den Raum betritt er nur auf Hinweis des Wärters. Er bleibt stehen. Dann setzt er sich hastig auf Anweisung, faltet die Hände zwischen den zusammengepressten Knien, hebt den Kopf und sagt mit stechendem Blick: Wegen Suchtmittelvergehen habe er gesessen. Er habe nie auf Menschen geschossen, er sei ja auch kein Gewaltverbrecher.

Erzählung versus Realität

Aber lauscht man den Geschichten vom Krieg, die die Gefangenen in dem Lager erzählen, so könnte man meinen: Die russischen Streitkräfte bestehen nur aus Köchen, Sanitätern, Fahrern. Alles waren sie – nur keine Soldaten, die gekämpft und geschossen haben. Die Realität bestätigt das Gegenteil.

Aber freilich: In jedem einzelnen konkreten Fall lässt sich das weder be- noch widerlegen. So auch bei Oleg nicht. Er sagt: Ein Monat sei er nach dem Training in Luhansk im tatsächlichen Einsatz gewesen, aber gerade einmal zwei Tage habe er in den Gräben in der ersten Linie gelegen, ehe er gefangen genommen wurde. Damals, knapp vor Weihnachten war das.

Oleg hat für die 2014 entstandene russische Söldnergruppe Wagner gekämpft, deren Name auf einen der Gründer zurückgeht: Der ehemalige Oberstleutnant Dmitri Utkin führte diesen Kampfnamen als Hommage an Adolf Hitler und dessen Lieblingskomponisten Richard Wagner.

Rechtlich ist das Wagner-Bataillon Niemandsland: Denn die Genfer Konvention gilt nur für Soldaten regulärer Armeen – nicht aber für Söldner. Aber das wusste er nicht, ehe er hierher kam in die Westukraine, um zusammen mit einigen Hundert anderen gefangenen Russen – die allermeisten reguläre Soldaten – auf einen Austausch zu warten.

Privatarmee

Die ukrainischen Stellen behandeln Wagner-Leute als Kriegsgefangene. Ein Unterschied werde nicht gemacht, sagt ein Regierungssprecher. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes habe Zugang zu dem Lager. Seitens des IKRK wollte man das mit dem Hinweis auf den Umstand, dass man solche heiklen Details nicht öffentlich kommentiere, weder bestätigen noch dementieren.

Wagner – das ist eine Privatarmee. Schon vor Russlands Frontalangriff auf die Ukraine hatte sie militärische Auslandsmissionen in russischem Interesse ausgeführt: in Syrien, im Sudan, in der Zentralafrikanischen Republik, in Madagaskar, Libyen, Venezuela, Mosambik und Mali – als eine Art private Sondereinsatztruppe, deren Verluste nicht in offizielle Statistiken reinfallen.

Es ist eine Miliz mit exklusivem Zugang zu schwerem Gerät. Eine private Armee, die auf staatliche Ressourcen Zugriff hat. Und all das an sich gegen existierendes russisches Recht: Denn bewaffnete private Sicherheitsfirmen wie Wagner sind verboten in Russland. "Wagner gibt es, weil jemand Wagner braucht", sagt Oleg zu diesem Umstand. Aber auf die Frage, wer dieser Jemand sei, sagt er nichts, hebt die Schultern, schweigt.

Denn so exklusiv der Spielraum für Wagner, so mächtig der Besitzer der Gruppe: der Oligarch Jewgeni Prigoschin. Ein Kleinkrimineller in den 1980er-Jahren, der wegen bewaffneten Raubs neun Jahre einsaß, sich in den 1990er-Jahren als Gastrounternehmer in Sankt Petersburg Bekanntheit verschaffte und sich später den Spitznamen "Putins Koch" erwarb. Ein Dienstleister für das Regime: So gehören neben Wagner etwa auch Internet-Troll-Firmen zu Prigoschins Imperium. Heute gilt er als einer der mächtigsten Vertreter des Hardliner-Lagers in Russland.

Jewgeni Prigoschin (neben Wladimir Putin, 2010): vom Kleinkriminellen zum Oligarchen mit Privatarmee.
Alexei Druzhinin, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP

Vor Beginn des offenen Krieges Russlands gegen die Ukraine hatte Wagner den Ruf einer nahezu sektenhaften und unantastbaren Elitetruppe. Seit dem 24. Februar 2022 füttert die Firma Russlands Krieg in der Ukraine aber ganz einfach mit billigen Kämpfern. Als es eng wurde für die russische Armee in der Ukraine, erhielt Prigoschin die Lizenz zum Rekrutieren in russischen Gefängnissen: Mörder, Diebe, Betrüger, Schläger, Drogenhändler wie Oleg. Alles darf für Wagner in die Schlacht ziehen – außer Vergewaltiger.

Wer überlebt, wird amnestiert

Der Deal: Wer sechs Monate überlebt, wird amnestiert. Er selbst habe nichts als Wagner gesehen in der Ukraine, sagt Oleg. Von der Ausbildung im russisch besetzten Luhansk in der Ostukraine bis zum Einsatz. Keine Armee, keine Leute des Tschetschenen-Führers Ramsan Kadyrow, von der Logistik im Hinterland bis in die erste Linie, so Oleg: alles Wagner. Denn, und das sagt er auch ganz offen: "Wagner bereitet den Weg."

Wagner sei dazu da, der regulären russischen Armee den Weg zu ebnen. Und dann nach einer Pause – den Blickt wieder starr nach vorne: "Wir haben gewusst, dass wir bloß Fleisch sind, und dem zugestimmt." Ideologie, so sagt er, habe dabei keine Rolle gespielt. Nur die Amnestie.

An anderer Stelle sagt er dann aber doch, dass er habe helfen wollen. Dass er geglaubt habe, was das russische TV ihm vorgebetet habe: dass die Ukraine von westlichen Mächten besetzt sei, die dort Zivilisten töteten.

Kanonenfutter aus Haftanstalten für das, was Russland die Entnazifizierung nennt. Wie die russische Propagandistin Margarita Simonjan bereits vor der Rekrutierungswelle in den Gefängnissen im russischen Staatsfernsehen anregte: Wieso schicke Russland denn gebildete junge Männer in die Schlacht, die Zukunft des Landes? Und nicht die Unnützen? Und sie nannte Gefängnisinsassen und Kunststudenten. Oleg war einer aus der ersten Gruppe. "Unser Leben hat keinen Preis, uns kann man opfern", sagt er dazu, als wäre es selbstverständlich.

Hohe Todesrate

Rund 30.000 Männer sollen aus russischen Gefängnissen rekrutiert worden sein. Laut ukrainischen Schätzungen sind bereits 80 Prozent davon in der Ukraine gefallen, verwundet oder gefangen genommen worden. Die Felder vor der ostukrainischen Stadt Bachmut sind übersät mit ihren Leichen.

Oleg sagt, von seiner Gruppe mit 50 Mann sei vermutlich keiner mehr am Leben. Aber worauf er sich da einlässt, habe er gewusst. Ein Tauschgeschäft: Tod oder Freiheit. Davonrennen, sich ergeben, sich zurückziehen – all das sind keine Optionen.

Es gibt zahlreiche Berichte, wonach Wagner-Kämpfer von eigenen Leuten beschossen werden, wenn sie sich weigern, in den sicheren Tod zu rennen. Aber was, wenn man auf einem Botengang durch eine Kraterwüste zwischen Einschlägen die Orientierung verliert und in eine ukrainische Stellung rennt? Das sei ihm nämlich passiert, erzählt Oleg.

Mit Deserteuren verfährt Wagner so: Einem Wagner-Mann, der in ukrainische Gefangenschaft geriet, sich dabei allzu kooperativ gab und meinte, er sei bloß in die Ukraine gegangen, um die Seiten zu wechseln und gegen Russland zu kämpfen, wurde nach dem Gefangenenaustausch mit einem Vorschlaghammer der Kopf eingeschlagen. Vor laufender Kamera. Wagner-Chef Prigoschin persönlich habe das Video so kommentiert: Ein Hund sei da den Tod eines Hundes gestorben. Der Mord soll kein Einzelfall sein.

Vor dem Fenster: Blauer Himmel, Wolkentürme am Horizont, Sonne, Wind. "Sie können mich beseitigen." Das sagt Oleg dazu leise, hebt die Schultern. Nach Hause will er dennoch. Immerhin ende in zwei Monaten sein Vertrag – und damit, sagt er mit einem fragenden Unterton, sei er ja wohl aus dem Schneider. Oder? (Stefan Schocher, 27.1.2023)