Austernpilze am Stamm eines gefällten Baums. Vermutlich um an Stickstoff zu gelangen, fressen die Pilze auch Fadenwürmer.

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Nicht nur Tiere und Menschen fressen andere Tiere. Auch einige Pflanzenarten – wie die Venusfliegenfalle oder der Sonnentau – gehören zu den Karnivoren. Und selbst bei den Pilzen, die neben den Tieren und Pflanzen das dritte große Reich der komplexeren Lebewesen bilden, kommt der Verzehr von Tieren vor.

Am spektakulärsten vermutlich bei einigen Arten der Gattung Cordyceps, deren Sporen Ameisen befallen und diese zu willenlosen Zombies machen. So kann der Pilz im Körper der Ameise heranwachsen, bis schließlich der Fruchtkörper aus dem Kopf des Insekts wächst, platzt und mit seinen Sporen aufs Neue Ameisen befällt. Damit beginnt das grausame Schauspiel wieder von vorn – seit mindestens 50 Millionen Jahren.

Beliebter und gesunder Speisepilz

Zudem gibt es rund 160 Arten von sogenannten nematophagen Pilzen – also solchen, die gerne Fadenwürmer fressen. Einer davon ist auch bei uns im Handel erhältlich und als Speisepilz beliebt, da er nicht nur vegan, sondern auch gesund ist: der Austernpilz, der zu den Seitlingen gehört. Dieses Faktum ist der Wissenschaft seit langem bekannt. Warum diese Seitlingsart zum Auch-Karnivoren wurde, ist schon wieder nicht so sicher.

Vermutlich liegt es daran, dass die übliche Nahrung des Pilzes – feuchte Baumstämme – arm an Stickstoff ist. Um an dieses wichtige Spurenelement zu gelangen, werden sie in stickstoffarmem Untergrund zu "Killern" von mikroskopisch kleinen Nematoden, deren bekannteste Art C. elegans ist, einer der besterforschten Modellorganismen der Molekularbiologie.

Um sich an den Fadenwürmern gütlich zu tun, hat der Austernseitling spezielle Strategien entwickelt, die der Pilzkunde bislang nur in Grundzügen bekannt waren. Offensichtlich war bis vor kurzem nur, dass der Pilz seine Nematoden-Beute klarerweise nicht mechanisch fangen und festhalten kann. Also vermutete die Wissenschaft, dass seine Hyphen – seine fadenförmigen Zellen – die Fadenwürmer irgendwie vergiften, um ihre Leichen fressbar zu machen.

Die Rätsel der Nematophagie

Die Rätsel um den genauen Mechanismus der Wurmvertilgung haben Forschende um Yen-Ping Hsueh (Institut für Molekularbiologie der Academia Sinica in Taipeh) in den letzten Jahren nach und nach gelöst – und dabei ziemlich raffinierte Tricks entdeckt. Bereits im Jahr 2020 beschrieb das Team um die Molekularbiologin, wie das Gift über die Sinnesorgane der Würmer in deren Körper gelangt. "Das Gift lähmt die Würmer innerhalb einer Minute", sagt Hsueh. "Es wirkt sehr dramatisch."

Zur Dramatik trägt freilich auch die Musikuntermalung des folgenden Videos von Hsuehs Arbeitsgruppe bei:

Fungal-Worm Lab IMB Academia Sinica

Bleiben zwei Fragen: Wo im Pilzfadengeflecht findet sich der für die Würmer tödliche Giftspender? Und um welches Gift handelt es sich? Für ihre neue Studie im Fachblatt "Scientific Advances" fanden die taiwanesischen Fachleute in ersten Experimenten heraus, dass es sich bei den Giftträgern um die mikroskopisch kleinen Kügelchen handelt, die an den Hyphen angelagert sind und von den Forschenden nunmehr als "Toxozysten" erstbeschrieben, aber auch als toxische "Lollipops" bezeichnet wurden.

Die lollipopartigen Kügelchen an den Hyphen enthalten das für die Fadenwürmer tödliche Gift.
Foto: Yi-Yun Lee

Die Suche nach dem Gift

Im zweiten Schritt versuchten sie das Gift zu identifizieren, das den Fadenwürmern den Garaus macht, und manipulierten dafür die Toxozysten. Erst nach längerem Experimentieren wurde war, dass es sich beim Toxin um ein Gas handeln musste, dass Hsueh und ihre Kollegen schließlich als 3-Octanon identifizierten. Das war überraschend, sagt die Pilz-Wurm-Spezialistin, denn 3-Octanon ist eine in der Natur relativ häufig vorkommende Substanz, die von vielen Pflanzen und Pilzen hergestellt wird. Sie ist auch ein häufiger Bestandteil von Duft- und Aromastoffen.

Bei der Anwendung der Substanz auf Würmer wurde jedoch deutlich, dass 3-Octanon genauso wirkt wie der Kontakt mit den Hyphen der Austernpilze: Die Substanz ist für sie ein lähmendes und letztlich tödliches Nervengift. "Diese Effekte erinnern an die lokale und systemische Muskelschädigung, die bei manchen Bissen von Giftschlangen und nach Massenstichen von Bienen auftreten", schreiben die Forschenden.

Schutz vor Fadenwurmattacken

Diese Strategie sichert dem Pilz seine Fleischmahlzeiten; sie könnte ihn aber zusätzlich auch vor Angriffen pilzfressender Fadenwürmer schützen. Und da werden die neuen Erkenntnisse auch kommerziell interessant: Denn Fadenwürmer sind dafür bekannt, dass sie die Wurzeln von Nutzpflanzen zerstören, und Substanzen aus der Natur, die gegen diese Würmer wirken, haben zu Medikamenten wie dem während der Pandemie allseits bekannt gewordenen Ivermectin geführt.

Da 3-Octanon flüchtig ist, ist es unwahrscheinlich, dass es als Pestizid gegen Würmer eingesetzt werden könnte. Aber vielleicht, so die Hoffnung von Yen-Ping Hsueh, könnte das Verständnis, wie der Austernpilz dazu kam, diese Substanz als Gift zu verwenden, dennoch die Tür zu einer neuen Art der Schädlingsbekämpfung öffnen. (tasch, 24.1.2023)