Vor dem Straflandesgericht Wien geht es natürlich nicht um diesen Bernhardiner-Welpen, putzig soll aber auch der tatsächliche Auslöser einer körperlichen Auseinandersetzung sein, sagen Verfahrensbeteiligte.

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Wien – "Wie süüüüüüüß!" ist die Reaktion der meisten Menschen beim Anblick eines acht Wochen alten Hundebabys. Auch Charlie, das Produkt eines Husky-Akita-Vaters und einer polnischen Hirtenhündin, dürfte mit dem Kindchenschema gepunktet haben. Nach einer Auseinandersetzung über die Besitzverhältnisse an dem Welpen mussten im Sommer allerdings drei Personen ein Spital aufsuchen. Wie es dazu gekommen ist, soll ein Schöffengericht unter Vorsitz von Andreas Hautz ergründen.

Was nicht ganz einfach ist, denn der 20 Jahre alte Herr S., dem darüber hinaus eine Beteiligung an einem schweren Raub sowie eine weitere Körperverletzung vorgeworfen wird, sagt nichts. Warum, ist nicht ganz klar: Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er bereit ist, Entscheidungsfragen durch Nicken oder Schütteln des Kopfes zu beantworten, nickt der zweifach vorbestrafte Österreicher zwar noch. Doch danach sitzt er einfach regungslos auf dem Anklagestuhl und ignoriert den Senat.

Verworrene Akte Charlie

Das ist sein gutes Recht, daher verliest Hautz die Stellungnahme zur Akte Charlie, die der Arbeitslose damals bei seiner polizeilichen Einvernahme abgegeben hat. S. soll am 3. Juli in der Wohnung seiner Mutter ein Ehepaar verletzt haben, das sich eigentlich den kleinen Hund abholen wollte. Bei der Exekutive bekannte S. sich nicht schuldig – es sei zu einem Streit gekommen, seine Mutter sei von den Gästen bedrängt worden, er habe ihr nur geholfen.

Als erste Zeugin tritt die Mutter des Angeklagten auf. Sie war mit der Besitzerin des Rüden befreundet, als man den Plan fasste, den tierischen Nachwuchs zu produzieren. Ihrer Darstellung nach begutachteten Onkel und Tante der Rüdenbesitzerin den Wurf in Niederösterreich, suchten sich ein Tier aus und vereinbarten per Handschlag die Zahlung von 500 Euro dafür, was auch Tierarztkosten und andere Auslagen abdecken sollte.

Aus ungeklärt bleibenden Gründen zerstritt Frau S. sich mit der Rüdenbesitzerin, blieb aber mit der Käuferfamilie in spe in Kontakt. Anfang Juli wurde ein Treffen in der Wiener Wohnung von Frau S. vereinbart, als Onkel und Tante auftauchten, kündigten sie an der Tür einen "Überraschungsgast" an – die Rüdenbesitzerin. Was wohl der Stimmung nicht unbedingt zuträglich gewesen ist.

Kostenlos versus 500 Euro

Frau S. schildert es jedenfalls so: Die andere Seite wollte den Welpen plötzlich umsonst. Sie weigerte sich und forderte die Gäste zum Verlassen der Wohnung auf. Da sei Charlie aus der Küche gelaufen, die Rüdenbesitzerin habe das Tier in den Arm genommen und sich angeschickt, mit ihm die Wohnung zu verlassen. Sie wollte das verhindern und Charlie wieder an sich bringen, worauf sich Onkel und Tante eingemischt hätten. Frau S. habe angesichts der Drei-zu-eins-Unterlegenheit ihren anwesenden Sohn, den Angeklagten, um Hilfe gerufen, sagt sie.

Im Flur sei es zu einem Gerangel zwischen dem Angeklagten und dem Onkel gekommen, sie wollte die beiden trennen und habe dabei vom Onkel mindestens einen Schlag gegen den Kopf erhalten, beteuert sie. Im Stiegenhaus sei der Onkel gestolpert und mit dem Kopf gegen die Wohnungstür einer Nachbarin geprallt, Charlie sei im Tumult aus dem Gemeindebau gelaufen. Dass ihr Sohn auf den Onkel eingeprügelt habe oder gar dem Liegenden im Stiegenhaus Tritte verpasst habe, wie die Kontrahenten behaupten, bestreitet sie – der Angeklagte sei zu diesem Zeitpunkt wieder in der Wohnung gewesen.

Zeugin legt Befund und Bilder vor

Zur Überraschung des Vorsitzenden sagt die Zeugin, auch sie sei bei dem Vorfall verletzt worden: Sie kann den Ambulanzbefund eines Krankenhauses über eine Gehirnerschütterung und Quetschungen vorlegen, außerdem zeigt sie Fotografien von deutlich sichtbaren Blutergüssen an den Oberarmen und im Gesicht. "Warum zeigen Sie das erst jetzt her?", will Hautz wissen. "Ich wurde von meinem früheren Anwalt schlecht beraten", entschuldigt die Angestellte sich. Die Gehirnerschütterung stamme vom Treffer des Onkels, ist sie überzeugt, die Hämatome habe sie sich zugezogen, als dieser und die Tante sie packten.

Die Rüdenbesitzerin tritt als nächste Zeugin auf – und erzählt eine ganz andere Geschichte. Vereinbart sei gewesen, dass sie einen Welpen aus dem Wurf kostenlos bekommen solle, behauptet sie. Da sie bereits ein Tier hatte, wollte sie ihren "Anteil" an Onkel und Tante weiterreichen, die sich in Niederösterreich den Hund aussuchten.

Dann habe Frau S. plötzlich 500 Euro für Charlie verlangt. "Das darf sie als Hobbyzüchterin aber gar nicht", erklärt die Zeugin mit Bestimmtheit. Laut ihrer Darstellung seien maximal 350 Euro für einen "Schutzvertrag" zulässig, mit dem sichergestellt werden solle, dass der Welpe nicht ins Tierheim komme, falls die neuen Besitzer seiner überdrüssig werden.

Rechtliche "Aufklärung" als Besuchsgrund

"Wir kamen dorthin, um sie ein bisserl aufzuklären", erläutert die Rüdenbesitzerin ihre unangekündigte Anwesenheit. Ihre Rechtsansicht wurde von Frau S. nicht geteilt. Als man sich bereits anschickte, zu gehen, kam Charlie angetapst. "Ich habe mich gefreut, ihn zu sehen und ihn hochgehoben", erinnert die Zeugin sich. Worauf Frau S. "völlig hysterisch" geworden sei – und begonnen habe, Charlie zu würgen. Sie selbst habe eigentlich nur ein Gerangel zwischen ihrem Onkel und dem Angeklagten mitbekommen, sonst aber nichts gesehen.

"Nun hat uns Frau S. heute aber Fotos gezeigt von blauen Flecken an den Oberarmen und im Gesicht. Wie sind die dann entstanden?", interessiert den Vorsitzenden. "Ich habe sie nicht angegriffen!", beteuert die Rüdenbesitzerin. "Und Ihr Onkel oder Ihre Tante?" – "Definitiv nicht!", gibt die Zeugin sich überzeugt. Im Stiegenhaus will sie dagegen einen antisemitischen Ausfall der Gegenseite mitbekommen haben. Frau S. soll zur Nachbarin, die ob des Tohuwabohus den Kopf herausstreckte, gesagt haben: "Nein, es ist nichts, das sind nur Juden. Mit denen sollte man nichts zu tun haben."

Ihr selbst sei es gelungen, den entfleuchten Charlie wiederzufinden. Als sie zurückkam, um ihn an Frau S. zu übergeben, habe die im Beisein der mittlerweile eingetroffenen Polizei gesagt. "Behalt ihn! Ich gebe Dir auch einen zweiten!", was auch in einem Amtsvermerk durch einen Beamten notiert wurde.

Hundewunsch, um Tochter von Kynophobie zu heilen

Die Tante betritt als nächste Zeugin den kleinen Verhandlungssaal – und liefert eine weitere Version von Hintergründen und Ereignissen. Sie sei mit ihrer Familie zu Frau S. gefahren, um die Details für Charlies Übernahme zu regeln. Angeblich habe sie ihre Nichte, die in der Nachbarschaft lebende Rüdenbesitzerin, erst vor Ort angerufen, da sie die richtige Adresse nicht fand. Noch widersprüchlicher ist die Aussage bezüglich eines anderen Familienmitglieds: Ihre Tochter habe wie schon in Niederösterreich im Auto gewartet, da sie Angst vor Hunden habe, behauptet die Tante. Nur, um zehn Minuten später zu berichten, die Tochter habe sich den Erwerb von Charlie gewünscht, um ihre Hundeangst zu überwinden.

In der Wohnung habe sich Frau S. generös gegeben und gesagt, sie würde für den Welpen normalerweise 600 Euro verlangen, sei aber bereit, ihn um 500 Euro herzugeben. Der Onkel habe den Disput dann beendet, indem er sagte: "Wir diskutieren nicht weiter, wir übergeben das unserem Anwalt." Dann sei Charlie aufgetaucht, die Rüdenbesitzerin wollte dem Kleinen noch einen Abschiedskuss geben, sie, die Zeugin, ihn nochmals streicheln, da er so entzückend gewesen sei.

"Filmreif" durch Wohnungsflur getrieben

Frau S. habe völlig die Nerven verloren, begonnen, das kleine Tier zu würgen und schrie dabei angeblich: "Lieber töte ich ihn, als ihn euch zu übergeben!" Es folgte eine Rangelei, während der der Angeklagte sich einmischte. "Er hat mich weggestoßen und ein paar Mal geschlagen", sagt die Tante. "Es war filmreif, er hat mich durch den Flur getrieben, und ich bin im Stiegenhaus umgefallen, genau auf meinen Ellenbogen." Auch ihren 1,96 Meter großen und 140 Kilogramm schweren Gatten müsse er so behandelt haben, anders könne sie sich nicht erklären, warum der gegen die Tür der Nachbarin geprallt sei. Herr S. habe zu ihrem Entsetzen dann auch noch auf den Liegenden in den Bereich der Nieren eingetreten.

Auch die Tante sagt, die antisemitische Aussage von Frau S. zur Nachbarin gehört zu haben. "Das hat mich so getroffen. Mein Großvater wurde in Auschwitz getötet!", erklärt die gebürtige Russin erschüttert. Bei Frau S. seien ihr keine Verletzungen aufgefallen, wie solche entstanden sein sollten, kann sich die Tante auch nicht erklären. Sie selbst habe sechs Wochen Schmerzen gehabt, ihr Ehemann sei wegen eines durch die Attacke erlittenen Sehnenrisses derzeit verhindert.

Mittlerweile neue Besitzer

Charlie lebt mittlerweile übrigens in einem anderen Bundesland, erfährt man am Ende noch. Beisitzerin Alexandra Skrdla, die über ein gewisses kynologisches Fachwissen verfügt, wie man im Prozessverlauf merkt, fragt zum Grund der Abgabe nach: "Hatte Ihre Tochter doch zu viel Angst?" – "Nein, sie hat ihre Angst überwunden", meint die Zeugin. Die Betreuung des Tieres sei aber zu aufwendig gewesen, die neuen Besitzer würden noch immer regelmäßig Bilder des Tieres schicken.

Frau S., die die Aussagen ihrer beiden Gegnerinnen im Publikum verfolgt hat, wird vom Vorsitzenden nochmals auf den Zeugenstuhl gebeten. Die antisemitischen Äußerungen bestreitet sie. Dass sie der Rüdenbesitzerin am Vorfallstag Charlie schließlich überlassen hat, bestätigt sie. "Aber ich war nach den Angriffen unter Schock und hatte eine Panikattacke!", erklärt sie dazu. Sie habe vor der Rüdenbesitzerin Angst gehabt, versucht sie zu verdeutlichen. "Neben der Polizei?", mag Hautz das kaum glauben.

Hautz vertagt schließlich auf unbestimmte Zeit, um auch den rekonvaleszenten Onkel und die Nachbarin befragen zu können. Außerdem will er ein psychiatrisches Gutachten zur Zurechnungsfähigkeit des eisern schweigenden Angeklagten einholen lassen. (Michael Möseneder, 23.1.2023)