Dem Minister ist heute nicht ganz wohl in der Magengegend. Denn das Flugzeug, das er gerade betreten hat, kann man bestenfalls als "rustikal" bezeichnen. Das Rauschen der Triebwerke ist auf dem Flugfeld schon von weit weg zu hören. Und die Innenausstattung der Spartan-Maschine geht zum Namen passend auch tatsächlich als recht spartanisch durch. Fenster gibt es im Transporter der bulgarischen Luftwaffe so gut wie keine. Dafür eine eher schlichte Wärmedämmung aus weichem Kunststoff, den man mit Nieten direkt an den Metallwänden des Flugzeugs befestigt hat.

In einem Helikopter mit dem bulgarischen Präsidenten Rumen Radev machte sich Karl Nehammer ein Bild vom Grenzzaun zwischen der Türkei und Bulgarien. Zuletzt stimmte Österreich gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens, aus Sorge vor erhöhter Migration
DER STANDARD

Fliegen, das mag Innenminister Gerhard Karner generell nicht ganz so gerne. Unter den heutigen Voraussetzungen allerdings noch weniger als sonst, das sieht man auch an seinem Gesichtsausdruck. Für wenig Flugbegeisterte ist die kurze Bulgarien-Reise von Bundeskanzler Karl Nehammer und Karner (beide ÖVP) aber auch sonst wohl nicht der beste Ausflug.

Zaun-Gäste

Denn zwischen dem späten Sonntagnachmittag und Montagabend kommen Kanzler, Minister und die mitgereiste Delegation an Journalistinnen und Journalisten, der auch DER STANDARD angehört, auf nicht weniger als sechs Flüge: mit der Linienmaschine von Wien nach Sofia; mit Spartan von dort in Bulgariens zweitgrößte Stadt Plovdiv; mit einem etwas in die Jahre gekommenen Armee-Helikopter an die bulgarisch-türkische EU-Außengrenze; und all diese Strecken mit den gleichen Transportmitteln wieder zurück. Sechs Flüge während eines Tages und ein paar zerquetschter Stunden? Warum all dieser Aufwand?

Bulgariens Präsident Rumen Radev (links) und Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP, rechts) beim Besuch einer Grenzpolizeistation in Elhovo.
Foto: REUTERS/ STOYAN NENOV

Auf ihrem kurzen Aufenthalt trafen Nehammer und Karner Bulgariens Präsident Rumen Radev, Premierminister Galeb Donev und Innenminister Ivan Demerdzhiev. Vordergründig ging es um den gemeinsamen Kampf gegen illegale Migration. Der Migrationsdruck aus der Türkei Richtung Bulgarien sei weiterhin hoch, heißt es aus dem Innenressort. Und natürlich würden die meisten Migrantinnen und Migranten nicht in Bulgarien bleiben wollen, sondern in mittel- und westeuropäische Staaten weiterziehen wollen.

Der bulgarische Grenzzaun zur Türkei etwa, aktuell rund 236 Kilometer lang, bedarf daher laut österreichischer Einschätzung einer Sanierung und Erweiterung. So sei der Großteil der Barriere einreihig ausgeführt und stelle deshalb "für kriminelle Schlepper kein ernstzunehmendes Hindernis dar". Bulgarien brauche daher "rasche und ordentliche Unterstützung" der EU beim Schutz der EU-Außengrenze, ließ Karner wissen. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem bulgarischen Präsidenten forderte Nehammer am Montagnachmittag dann konkret zwei Milliarden Euro von der EU, um Bulgarien beim Grenzschutz zu unterstützen. Für die Stärkung des Zauns ebenso wie für Überwachungsmaßnahmen, Kameras und Drohnen. Und: Der Kanzler wünscht sich von der EU Rechtsänderungen, etwa eine neue "Zurückweisungsrichtlinie".

Händeschütteln mit Grenzbeamten

Der Besuch gab Nehammer und Karner angesichts der im Vorjahr stark gestiegenen Asylantragszahlen in der EU ein weiteres Mal Gelegenheit, die schon recht bekannte Erzählung des türkisen Innenministeriums von Grenzschutz, Bekämpfung illegaler Migration und kriminellen Schlepperbanden anzubringen. Die passende Inszenierung half da auch: Flüge in Militärmaschinen und Hubschraubern in Camouflage-Bemalung; Händeschütteln mit Grenzbeamten.

Wer sich unter dem lauten Knattern der Rotorblätter über bulgarische Äcker in Richtung Grenze zur Türkei aufmacht, der sieht bald das, wovon die beiden Politiker nicht müde werden zu reden – von dessen Verstärkung, Erweiterung, von dessen gewünschter "Robustheit": den Grenzzaun. Und aus der Luft betrachtet, wenn man mit eigenen Augen sieht, wie sich Kilometer um Kilometer an Metall aneinanderreiht, Spiralen an Stacheldraht an seiner Spitze, wird einem auf andere Art bewusst, was all das bedeutet: "Willkommen im neuen Europa."

Illegale Geheimgefängnisse

Wer dann die Inszenierung im Anhaltezentrum der bulgarischen Grenzpolizei beobachtet – Ankunft in Militärmaschinen, martialisch auftretende bulgarische Grenzpolizisten in schwarzen Uniformen –, dem kommen möglicherweise auch einige der Schlagzeilen der vergangenen Wochen in den Sinn.

Just Bulgarien war nämlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) schon wegen seiner illegalen Pushbacks verurteilt worden – diese verstießen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, urteilte der Gerichtshof. Und just in Bulgarien hatte ein internationales Recherchekonsortium aus ARD, "SPIEGEL", "Le Monde" und weiteren renommierten internationalen Medien erst Anfang Dezember illegale Geheimgefängnisse aufgedeckt, in denen es gegenüber Flüchtlingen und Migranten mutmaßlich zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex kündigte Ermittlungen an.

Wie geht Österreich auf seiner Charmeoffensive in Bulgarien mit diesen schweren Vorwürfen, mit der EGMR-Verurteilung um? Spricht man es in den Treffen mit den bulgarischen Kollegen an? Versucht man, Druck auszuüben, um ein menschenrechtskonformes Vorgehen an den Außengrenzen zu erwirken? Das sei in den Gesprächen kein Thema gewesen, heißt es aus dem Kanzleramt dem STANDARD gegenüber.

Im Hintergrund der österreichischen Delegationsreise stand indessen etwas anderes, über das in internationalen Medien schon viel berichtet worden war: das Treffen der EU-Innenminister vom 8. Dezember.

Damals hatte Österreich als einziges aller EU-Mitgliedsländer gegen den Schengen-Beitritt Rumäniens gestimmt. Der Beitritt Bulgariens wurde in Brüssel im Paket mit Rumänien abgestimmt, womit Österreich – gemeinsam mit den Niederlanden – auch die Mitgliedschaft Bulgariens im gemeinsamen Schengen-Raum blockierte. Nicht nur in Österreich holte sich Karner für sein Exklusivveto geharnischte Kritik bis Häme ab – auch international setzte es kritische Kommentare und Unverständnis für den eigensinnigen Kurs aus Wien.

Wiens Veto bleibt aufrecht

Im Kanzleramt versuchte man schon bald die Wogen zu glätten. Nehammer lud Bulgariens Präsident zum Neujahrskonzert nach Wien, der nahm die Einladung an. Dort plante man dann auch den "Gegenbesuch" in Bulgarien – aufgehängt am türkisen Dauerbrennerthema Migration.

Auf der Reise in Sofia – und auch schon im Vorfeld – betonten Nehammer und Karner jedenfalls, dass Wiens Veto aufrechtbleiben würde. Solange "der Schengen-Raum nicht funktioniert" und etwa Deutschland Grenzkontrollen zu Österreich durchführe, "können wir diesen Raum nicht erweitern", sagte Nehammer. Österreichs Blockade bleibe daher aufrecht, "bis sich die Situation grundlegend ändert".

Das konkrete Ziel der türkisen Veto-Politik blieb allerdings weiter vage. Anhand welcher Kriterien etwa festgemacht werden könnte, dass sich "die Situation grundlegend geändert hat", ließ man auch in Sofia teils unbeantwortet. Schengen sei kaputt, "das Gesamtsystem funktioniert nicht", hatte Karner schon am Sonntagabend in der "ZiB 2" erneut wiederholt. Man wolle jedenfalls Druck auf die EU-Kommission ausüben, den Außengrenzschutz "robuster" zu machen. Dazu brauche es sowohl technische Aufrüstung als auch rechtlich neue Möglichkeiten – etwa um Menschen gleich an den Außengrenzen zurückzuschicken, die "praktisch keine Chance auf Asyl haben".

Faktor Niederösterreich-Wahl

Und dann gibt es da noch einen weiteren Aspekt: Dass am Sonntag die für die ÖVP so zentrale Landtagswahl im türkisen Kernland Niederösterreich ansteht, stellte für die Delegationsreise zu exakt diesem Zeitpunkt wohl, diplomatisch formuliert, ebenfalls keine ganz große Hemmschwelle dar – auch wenn Kanzler, Minister und deren Kabinette einen Zusammenhang wenig überraschend ostentativ in Abrede stellten.

Denn Niederösterreichs türkise Landeshauptfrau Johanna Mikl Leitner steht vor der Wahl mit dem Rücken zur Wand: Vor fünf Jahren noch mit knapper absoluter Mandatsmehrheit ausgestattet, droht ihrer Volkspartei am Sonntag laut Umfragen ein empfindlicher Absturz um bis zu zehn Prozent. Großer Gewinner wäre demnach die unter ihrem Niederösterreich-Chef Udo Landbauer auf strammem Rechtskurs segelnde FPÖ.

Da kann es aus türkiser Sicht jedenfalls kaum schaden, dass just der amtierende Kanzler und der amtierende Innenminister politisch aus den Tiefen der niederösterreichischen Volkspartei kommen – und sich in Bulgarien wenige Tage vor dem Urnengang noch einmal als harte Kämpfer gegen irreguläre Migration inszenieren können.

Denn obwohl bei Bundesländer-Wahlen bekanntlich über den nächsten Landtag abgestimmt wird und nicht über den Kurs von Innenressort und Kanzleramt: Die "harte Hand gegen die Schleppermafia" und andere Schlagwörter mögen manch potenziellem Wähler in Niederösterreich durchaus gefallen. Und wäre es auch nur eine Handvoll Wahlberechtigter, die unter diesem aktuellen Eindruck Türkis die Stimme gibt und etwa nicht der Konkurrenz in Blau: Mikl-Leitner und die ÖVP könnten jede einzelne davon dringend gebrauchen. (Martin Tschiderer, 23.1.2023)