Der rosa Turm ist ein klassisches Montessori-Material. Die Kinder sollen die zehn Würfel in der richtigen Reihenfolge genau übereinander stellen. Dabei werden Verhältnisse zwischen Größe und Gewicht vermittelt und die Motorik geschult.

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Während heute in Wien die städtischen Kindergärten geschlossen bleiben, um am "Tag der Elementarpädagogik" auf die Personalnot aufmerksam zu machen, scheint im Montessori-Kinderhaus im dritten Bezirk alles wie immer zu sein. In der Gruppe der Drei- bis Sechsjährigen gibt es gerade Frühstück. Die Kinder haben das Buffet selbst hergerichtet. Ein kleiner Junge nimmt sich ein Stück Butter, eine Scheibe Brot, ein paar Scheiben Gurke und sucht sich einen Platz. Dann schmiert er sich sein Butterbrot. Auf jedem Tisch liegt ein kleines Häkeldeckchen, darauf eine Glasvase mit einer weißen Rose. Die Stimmung im Kinderhaus ist ruhig. Es riecht nach Orange, eine Kerze brennt auf dem Küchentresen. Kein lautes Kindergeschrei, kein Laufen und Toben. Fast meditativ bewegen sich die Kleinkinder zwischen Frühstücksbuffet und Tischen hin und her. Im Nebenraum sitzt eine Pädagogin mit einem Globus in der Hand und einigen Kinder um sie herum auf dem Boden. Sie lernen die Kontinente.

Hilf mir, es selbst zu tun!

Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen: Dieser Kindergarten ist anders als andere. Es gibt kein Spielzeug im herkömmlichen Sinn, kein Lego, keine Puppen oder Spielautos. Stattdessen liegen auf drei große Räume aufgeteilt in Fächern und Schubläden sortiert Materialien, die für die Kinder gut erreichbar sind. Der größte Teil ist aus Holz. Bewegliches Alphabet, buntes Perlenmaterial, Zylinder-Kästen, Lernuhren, geometrische Körper, Stangen in diversen Größen. "Die Materialien sind bei uns sechs verschiedenen Bereichen zugeordnet", erklärt Simone Kohl, die Leiterin vom Montessori-Kinderhaus in der Hetzgasse Wien. Diese sechs Bereiche sind Arithmetik, Sprache, Kreativbereich, Natur und Kultur, Sinnesbereich und Aktivitäten des praktischen Lebens. Das Kinderhaus arbeitet nach dem pädagogischen Leitsatz von Maria Montessori: "Hilf mir, es selbst zu tun." Dies gilt für die Handhabe mit den Materialien wie auch für die Begleitung der Kinder im Alltag allgemein.

Die Ärztin, Psychiaterin und Naturwissenschafterin Maria Montessori eröffnete am 6. Jänner 1907 in einem römischen Arbeiterviertel ihr erstes Kinderhaus und revolutionierte damit die Erziehungsarbeit. Ihre Pädagogik stellt die Bedürfnisse des einzelnen Kindes in den Mittelpunkt. Entgegen dem damaligen Zeitgeist, der Kinder eher als "unfertig" betrachtete, sah Montessori jedes Kind als einzigartiges Individuum mit eigener Persönlichkeit an, die es zu respektieren galt. Die freie Wahl der Arbeit soll Kinder zu mehr Selbstbestimmung und Verantwortung führen.

Auf dem Bild sortiert ein Junge Farbtäfelchen. Die Farbstufen kennenzulernen und zu sortieren gehört zu den klassischen Arbeiten in der Montessori-Pädagogik.
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Wer darf sich Montessori nennen?

Bis heute ist Montessori geblieben – und wird immer beliebter. Teile des Montessori-Konzepts finden sich mittlerweile in fast allen Regeleinrichtungen. Beispiele sind jahrgangsübergreifende Klassen oder die Abschaffung von Noten. Aber wer darf sich eigentlich "Montessori" nennen?

Ein Label oder eine Zertifizierung gibt es nicht. Montessori ist kein geschützter Begriff. Deshalb wird der Name zu Werbezwecken gerne von Spielzeugherstellern, Spielgruppen oder Kindergärten verwendet. "Ich hatte schon Eltern hier, die davor in einem angeblichen Montessori-Kindergarten waren. Dieser entpuppte sich hinterher aber als genau das Gegenteil", sagt Kohl. Viele Eltern würden den Begriff "Montessori" mit etwas sehr Positivem verbinden, hätten aber im Grunde gar keine Ahnung, was Montessori überhaupt bedeutet. "Nur weil ein Kindergarten einen rosa Turm als Spielmaterial bereitstellt, ist es noch lange kein Montessori-Kindergarten."

In Österreich gibt es zur Qualitätssicherung die ÖMG (Österreichische Montessori-Gesellschaft). Sie bietet neben Vernetzung und Austausch auch Beratung und Coaching für Montessori-Einrichtungen und verleiht das MQS – das Montessoi-Qualitätssiegel. Derzeit sind über 60 Einrichtungen Mitglied der Österreichischen Montessori-Gesellschaft. In ihnen werden aktuell rund 2.350 Kinder vom Kindergarten bis zur Matura begleitet. Das Kinderhaus in der Hetzgasse ist eines der ältesten Mitglieder der ÖMG.

Die Seguintafeln in der Kombination mit den goldenen Perlen helfen Kindern beim Kennenlernen des Zahlenraums.
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Montessori für alle? Nicht ganz

In der intensiven Arbeit mit geistig und körperlich eingeschränkten Kindern beobachtete Maria Montessori, dass die pädagogisch aufbereiteten Materialien den Kindern mit Einschränkungen so sehr halfen, dass einige von ihnen genauso gut in der Schule abschnitten wie Kinder ohne Einschränkungen. Als Maria Montessori ihr erstes "Casa dei Bambini" im römischen Arbeiterviertel San Lorenzo gründete, wollte sie signalisieren: "Montessori ist für alle da!" Es sollte nicht elitär, sondern egalitär sein. Schaut man sich jedoch die Kosten von Montessori-Schulen oder von Montessori-Kinderhäusern in Österreich an, so dürfte "Montessori für alle" nur ein lieb gemeinter Wunsch bleiben: Die meisten sind privat geführt und sehr teuer. So auch das Kinderhaus in der Hetzgasse: Eltern berappen für das Kleinkindhaus monatlich 450 Euro. In der Gruppe der älteren Kinder beträgt der Beitrag 380 Euro pro Monat – inklusive Essen. Die hohen Beiträge begründet die Leiterin durch die erhöhten Personalkosten: "Unsere Pädagoginnen und Pädagogen haben allesamt eine teure Montessori-Ausbildung." Auch der erhöhte Betreuungsschlüssel, drei Betreuungspersonen für 15 Kinder, das hochwertige Bioessen und das teure Arbeitsmaterial spielen bei den Kosten eine Rolle. "Mein großer Wunsch ist es, dass Montessori für jeden erschwinglich ist", sagt Kohl. Dazu müsse es für die privaten Einrichtungen aber mehr Förderungen geben.

Lange Wartelisten

Trotz der erhöhten Kosten hat das Kinderhaus in der Hetzgasse keine Probleme, Kinder zu finden. Die Wartelisten für einen Platz im Kleinkinderhaus sind lang. "Die meisten Eltern melden sich schon bei uns, wenn sie schwanger sind", sagt Kohl. Auch in der Gruppe der Drei- bis Sechsjährigen ist selten ein Platz frei, "da die Kleinen später zu den Großen wechseln". Und dennoch gibt es nicht nur Top-Verdiener unter den Eltern: "Wir haben auch Familien, die wirklich jeden Euro sparen, um ihren Kindern einen Platz bei uns zu ermöglichen." Solche Eltern würden bei der Anmeldung auf jeden Fall bevorzugt, sagt Kohl. "Da finden wir gemeinsam auch Wege, dass es finanziell für die Familien möglich ist." Und umgekehrt: "Es melden sich auch immer wieder Eltern an, die keine Ahnung von Montessori haben, die sich nicht damit beschäftigen – es sich aber leicht leisten können." Da kann es laut Kohl auch passieren, dass Familien abgelehnt werden. "Wir sind das älteste Montessori-Kinderhaus in Wien mit 30 Jahren Erfahrung. Wertschätzung unserer pädagogischen Arbeit ist uns sehr wichtig."

Gute Noten für Montessori-Kinder

Anders als vermutet, besucht der Großteil der Kinder später eine öffentliche Schule. "Nur einige wenige gehen dann weiter in eine Montessori-Schule", sagt Kohl. Viele der Schülerinnen und Schüler tun sich mit dem Lernen leichter, wenn sie davor in einem Montessori-Kinderhaus waren. Das wurde auch in einer US-amerikanischen Studie bestätigt, die den Erfolg der Montessori-Pädagogik wissenschaftlich untersuchte: In standardisierten Prüfungen bekamen die Schülerinnen und Schüler beim ersten Lesen und Rechnen bessere Noten als Kinder aus Regelkindergärten. Außerdem zeigten sie sich überlegen im sozialen Umgang mit Gleichaltrigen und reagierten positiver in kritischen Situationen auf dem Spielplatz im Vergleich zu Kindern, die keine Montessori-Erziehung genossen hatten. Kohl erklärt den schulischen Erfolg damit: "Montessori versteht die ersten sechs Lebensjahre eines Kindes als eine zweite embryonale Wachstumsphase, in der sich Geist und Psyche stark entwickeln." Außerdem sei das Kindergartenalter das wichtigste Entwicklungsstadium für die Persönlichkeit eines Menschen.

Freiheit und Regeln

Während sich die Kinder innerhalb der sechs Arbeitsbereiche emsig mit dem Material beschäftigen, erklärt Kohl: "Wissen Sie, Kinder wollen selbstständig sein, aber unsere Gesellschaft ist nicht auf die Kinder ausgerichtet." Als Beispiel nennt die Leiterin Möbel oder normale Alltagsgegenstände. Im Alltag seien diese für Kleinkinder immer zu groß, weshalb die Kinder permanent die Hilfe von Erwachsenen benötigen. Bei Montessori ist das anders: Nicht nur die Möbel sind klein, auch das gesamte Arbeitsmaterial. Im Montessori-Kinderhaus findet man kleine Waschbecken, kleine Wasserkrüge, kleine Handtücher. Alles wirkt, als wäre das Kinderhaus zu einer Miniaturwohnung geschrumpft.

Die Kinder dürfen sich im Kinderhaus den ganzen Tag frei bewegen. Sie entscheiden selbst, was und womit sie spielen. Wobei im Kinderhaus das Wording "arbeiten" statt spielen verwendet wird. Ein Platz ohne Regeln ist Montessori aber nicht. Ganz im Gegenteil: Jedes Arbeitsmaterial dient einer definierten Aufgabe. Perlen werden genutzt, um das Zählen zu lernen, nicht um damit Formen auf dem Boden zu legen oder Schmuck zu designen. Löffel und Zangen dienen dazu, motorisches Geschick beim Aufheben von Bohnen oder Kugeln zu schulen, nicht um Zahnarzt zu spielen. "Die Kinder begreifen die Regeln sehr schnell", sagt Kohl. "Es passiert eigentlich sehr selten, dass das Material zweckentfremdet wird." Wenn die Kinder mit dem Material fertig gearbeitet haben, räumen sie es ordnungsgemäß wieder an seinen Platz zurück.

Kritik: Kein Platz für spontanes Spiel

Ein Mädchen nimmt sich ein Tablett, darauf steht eine Schüssel mit blauen und weißen Glasperlen. Sie legt sie zu einem Kreis auf, verändert die Form mehrmals, sie wirkt konzentriert. Am liebsten spiele sie dennoch "Mutter, Vater, Kind" mit ihren zwei besten Freunden im Kinderhaus, verrät die Fünfjährige. "Doch das sei verboten." Auf Nachfrage erklärt die Leiterin: "Tatsächlich laden wir die Kinder dazu ein, Rollenspiele auf die Zeit im Park draußen oder zu Hause zu verlegen. Wenn aber das Bedürfnis nach Rollenspiel in der Gruppe groß ist, greifen die Pädagoginnen diese Themen auf und entwickeln daraus eine Geschichte. "Erst vor kurzem wurde im größeren Rahmen ein Theaterstück mit den Kindern umgesetzt. "Eine Mama arbeitet am Theater, sie hat mit den Kindern über einige Wochen hinweg ein Stück inszeniert."

Dieses Vorgehen wird von Kritikern der Montessori-Pädagogik als zu dogmatisch bezeichnet. Für die Kinder gäbe es zu wenig Raum für das spontane Spiel. Das didaktisch streng geordnete Montessori-Material würde außerdem den Raum für Kreativität einschränken. Wobei es in jeder Montessori-Einrichtung andere Regeln gibt, die strenger oder milder ausfällen können.

Klassische Musik und Ruhe

Eine andere Situation zeigt, wie sensibel auf die Bedürfnisse der Kinder geachtet und eingegangen wird: Ein Mädchen läuft immer wieder durch den Raum, ein anderes ermahnt es dabei immer wieder: "Du darfst nicht laufen, Ida*!" Dann wendet sie sich anklagend an die Pädagogin. Man erwartet sich Ermahnung, Tadel und zumindest die Erinnerung daran, dass in den Innenräumen nicht gelaufen wird. Stattdessen fragt die Pädagogin mit freundlicher Stimme: "Brauchst du Bewegung, Ida?" Diese nickt. "Brauchen vielleicht mehrere Kinder Bewegung?" Und binnen Sekunden wird der vollgeräumte Sinnesraum geleert, klassische Musik tönt aus einem Lautsprecher, und die Kinder ziehen sich die Patschen aus. Es wird aber nicht wild getanzt, um dem Bewegungsdrang der Kinder nachzugeben. Nein, sie balancieren der Reihe nach und im Kreis eine am Boden geklebte Linie entlang. Alles mit Ruhe und Konzentration. (Nadja Kupsa, 24.1.2023)