Irgendwo in den Wäldern rund um Hannover ist ein Wolf gerade mit dem Tode bedroht und weiß nichts davon. Sein offizieller Name ist GW950m, sein Boulevardname abwechselnd "Problemwolf Nr. 1" oder "Dolly-Killer". Dolly war das 30 Jahre alte Pony von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, einer erfahrenen Reiterin. Im vergangenen Jahr, in der Nacht auf den 1. September, wurde Dolly auf von der Leyens Anwesen im niedersächsischen Burrdorf-Beinhorn von jenem Wolf gerissen. Die deutsche Ex-Verteidigungsministerin zeigte sich damals "fürchterlich mitgenommen". GW950m war zu diesem Zeitpunkt aber bereits kein Unbekannter mehr. Der Wolf riss zuvor – wie DNA-Analysen zeigten – schon mehrere Dutzend Tiere, vor allem Schafe und Ziegen, aber vereinzelt eben auch Rinder und Pferde, was für Wölfe durchaus ungewöhnlich und schwer umzusetzen ist, wie Experten sagen.

Auch deshalb wurde schon 2021 erstmals ein Todesurteil über GW950m verhängt, sein Abschuss per Ausnahmegenehmigung durch die Hannover'schen Behörden angeordnet: Aber GW950m überlebte die Frist und war weiter ein Problem. So kam es, dass sich GW950m im Herbst 2022 wieder auf der Abschussliste befand. Dies nährte Spekulationen, ob die mächtige Politikerin aus der Region etwas damit zu tun haben könnte oder zumindest ob ihrer Prominenz in ihrem Sinne entschieden wurde, weil ausgerechnet für ein auf einer EU-Verordnung basierendes Bundesgesetz zum Natur- und Artenschutz erneut eine Ausnahmegenehmigung erteilt wurde. Tatsächlich widersprach aber nicht nur das Büro von Ursula von der Leyen dieser Darstellung, auch das Ausstellungsdatum des Bescheids zeigt, dass der Antrag dazu tatsächlich bereits am 31.8.2022 bei der Behörde einging – also just an dem Tag, bevor der Wolf nachts das Pony von der Leyens riss.

Ursula von der Leyen ist eine große Pferdeliebhaberin, sie reitet selbst Dressur. Zu sehen ist sie hier bei einem Besuch des Vechtaer Stoppelmarktes im Jahr 2016.
Foto: imago/Nordphoto

Dazu kommt, dass GW950m tatsächlich ein "Problemwolf" ist. Er sei durchaus ein gutes Beispiel, dass es auch diese Ausnahmeregelungen brauche, diese aber auch ausreichend seien und nicht aufgeweicht werden müssten, argumentiert etwa der österreichische Grünen-EU-Abgeordnete Thomas Waitz, der sich seit Jahren für Tier-, Arten- und Umweltschutz im Parlament starkmacht, im STANDARD-Gespräch. Da, wo sie die Scheu vor dem Menschen verlieren – oftmals auch von Müll angelockt –, seien Tiere aus der Population zu entnehmen. Sogar im Hinblick auf eine Populationsregulierung erlaube die seit 1992 gültige Habitat-Richtlinie Möglichkeiten. Solange diese wissenschaftlich belegt und nicht von populistischer Stimmungsmache getragen sei, sei auch dagegen nichts einzuwenden, so der Grüne.

Aber zurück zu GW950m: Positiv beschieden wurde der Antrag Anfang Oktober. Begründet wurde der Abschuss mit der "deutlichen Konzentration" an Tötungen durch den Wolf, welche auch bereits zu wirtschaftlichen Schäden geführt hätte und weitere erwarten lasse. Erlaubt ist die sogenannte "Entnahme" freilich nur ausgebildeten Personen, zudem habe sie in einem "engen räumlichen Zusammenhang" zu geschehen. Wird ein Wolf geschossen, muss neben der sofortigen Meldung im niedersächsischen Wolfsbüro und der Entnahme von DNA-Proben binnen zwei Wochen beobachtet werden, ob das Töten weitergeht oder tatsächlich endet – sprich: ob es den "Richtigen" erwischt hat. Auch Nachtsichtgeräte wurden ausnahmsweise genehmigt. All das könnte aber bald schon wieder hinfällig werden, weil mit Ende Jänner die befristete Abschusserlaubnis endet.

Eingehende Analyse

Mit jeder verstrichenen Sekunde steigern sich also vorerst die Überlebenschancen von GW950m, wenngleich sich die Wölfe laut Statistiken sowieso eher vor Autos als vor den Gewehren der Jäger fürchten müssten. Geschichten, wo rasch Selbstjustiz geübt wurde, kennt auf dem Land in von der Wolf-Diskussion geprägten Bundesländern aber so gut wie jeder. Die Debatte wird erbittert geführt.

Füchse sind gar keine Rudeltiere. Wölfe schon.
Foto: National Park Service via AP

In den Wochen nach dem Tod von Dolly beschäftigte sich Ursula von der Leyen jedenfalls intensiv mit dem Thema Wolf. Nachdem vor allem von Österreichs ÖVP-geführtem Landwirtschaftsministerium und von österreichischen EU-Abgeordneten in Anbetracht der "Schäden für die heimische Alm- und Weidewirtschaft" das Thema Wolf in Brüssel und Straßburg intensiviert und die EU-Kommission dazu ermahnt wurde, "beim Thema Wolf der Wissenschaft zu folgen", zog von der Leyen nach. In ihrem Antwortbrief an Abgeordnete der Europäischen Volkspartei warnte sie vor einer gesteigerten Gefahr für die lokale menschliche Bevölkerung und stellte den aktuellen Schutzstatus des Wolfs, wie ihre Parteigenossen auch, infrage. Ende November habe sie "die Dienststellen der Kommission angewiesen, eine eingehende Analyse der Daten durchzuführen."

Übermütig oder nicht?

Dass es sich bei von der Leyens Agendasetzung um eine persönliche Vendetta gegen den Wolf handelt, glaubt der ÖVP-Abgeordnete Alexander Bernhuber nicht. Im STANDARD-Gespräch sagt er, ihre Überlegungen seien viel eher mit "regionalen Problemen" zu erklären, weil etwa die Wolfspopulation in den CDU-Bundesländern und im gesamten alpenländischen Raum seit Jahren rasant angestiegen sei. In Niedersachsen leben laut Ministeriumszahlen mittlerweile 39 Wolfsrudel mit insgesamt rund 350 Wölfen. Im Grunde sei das freilich eine "Erfolgsstory" für den Artenschutz, so Bernhuber. Einzelne Wölfe würden aber salopp formuliert "übermütig" werden und ihre "Kollegen in Verruf bringen", sagt er. Da gelte es schneller eingreifen zu können. Bei der aktuellen Gesetzeslage sei die "Entnahme von Problemwölfen" aber mit zu langer und aufwendiger Bürokratie verbunden und das Tier derweil längst über alle Berge.

Diesem Argument widerspricht Waitz. Wenn die Behörden zu lange brauchen, müsse eben die Bürokratie in den Ländern beschleunigt, nicht aber die Richtlinie aufgeweicht werden. "Die ÖVP hat sich aber nun mal auf den Schutzstatus des Wolfes eingeschossen", kann sich Waitz ein Wortspiel nicht verkneifen. Zu gerne würde sie damit von der verfehlten ÖVP-Agrarpolitik und anderen Problemen auf den Almen ablenken, sagt er. Eine bessere Behirtung – die übrigens zu 100 Prozent aus EU-Mitteln finanziert werden könne – könnte dabei schon viel mehr Probleme lösen, als es "das Abknallen des Wolfes" erreichen würde. So würden jährlich nämlich weit mehr Schafe durch Abstürze oder übersehene kleine Verletzungen sterben als durch Wolfrisse. Nachts eingepferchte und von Hirten bewachte Tiere würden auch nicht so weit hochwandern, wo sie Steinbock und Gams mit neuen Krankheiten bedrohen würden, argumentiert Waitz.

Wenig Chancen auf Änderung

Zwar verabschiedete das EU-Parlament bereits eine nicht bindende Resolution, die den EVP-Argumenten deutlich näher ist als beispielsweise jenen der Grünen. Für eine Regeländerung bräuchte es aber den Rat und die Zustimmung der Umweltminister aus den Ländern. Diese ist nicht absehbar. Und so bleibt der Wolf ein heißes Thema, vor allem hierzulande, ohne Aussicht darauf, dass sich in nächster Zeit wahnsinnig viel ändern dürfte.

Für den Schicksalsschlag mit dem Pony von der Leyens hat Waitz selbst größtes Mitgefühl und er verstehe die Betroffenheit. Dennoch sei es vorstellbar, dass das persönliche Unglück und der prominente Fall von Dolly das Interesse der Kommissionspräsidentin noch mal bekräftigte,n glaubt Waitz. "Denn bis dahin gab es im Kollegium eigentlich keinerlei Debatte zum Thema", so der Abgeordnete. Gut möglich aber, dass GW950m nicht nur seinen zweiten Abschussbefehl, sondern auch diese Diskussion überlebt. Wölfe werden bis zu 16 Jahre alt. (Fabian Sommavilla, 25.1.2023)