Wer in Europa auf das Flugzeug verzichten will, hat es nicht gerade leicht. Die Reise mit dem Zug ist in der Regel nicht nur länger und teurer, sondern oft auch gar nicht so einfach möglich. Das Nachtzugnetz wird zwar laufend ausgebaut – zuletzt etwa nach Amsterdam, Brüssel und Paris –, dennoch fehlen wichtige Urlaubs- und Geschäftsreisedestinationen.

Das mit Abstand am häufigsten angeflogene Ziel ab Österreich ist etwa London. Rund 715.000 Passagiere flogen in den ersten drei Quartalen 2022 ab Wien zu einem der Flughäfen der britischen Hauptstadt. Barcelona rangiert mit 420.000 Fluggästen auf Platz sechs. Dabei wären beide Ziele – so wie fast jeder Punkt in Europa – grundsätzlich auch mit dem Zug erreichbar.

Wien ist das wichtigste Drehkreuz für Nachtzüge in Europa. Viel mehr als 1.000 Kilometer schaffen sie pro Nacht nicht.
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Schlafend nach Madrid

Dass direkte Verbindungen fehlen, liegt vor allem an einem Grund: Sie sind zu weit weg, um sie in einer Nacht zu erreichen – zumindest mit derzeitigen Zügen. Für die rund 1.000 Kilometer lange Strecke von Wien nach Rom benötigt der Nachtzug aktuell rund 15 Stunden, er fährt im Durchschnitt also nur rund 70 Kilometer pro Stunde.

Dass da grundsätzlich mehr Tempo ginge, zeigen Hochgeschwindigkeitszüge, die tagsüber mit bis zu 300 Kilometern pro Stunde durch Europa flitzen. Warum also nicht Betten in ICE, Railjet und Konsorten bauen und in einer Nacht von Wien nach Madrid und von Stockholm nach Rom fahren?

Hohe Schienengebühren

Die Deutsche Bahn und der Internationale Eisenbahnverband (UIC) haben sich diese Frage bereits 2013 einmal gestellt. Mit einer Studie wollten sie herausfinden, ob sogenannte "Very Long Distance Night Trains" profitabel betrieben werden könnten. Die kurze Antwort: nein.

Die lange Antwort: vielleicht. Aber nur wenn die Trassengebühren sinken, also die Kosten, die Schienenbetreiber den Bahngesellschaften verrechnen. Gleichzeitig müsste Fliegen viel teurer werden – etwa durch eine Besteuerung von Kerosin oder eine CO2-Steuer.

Flieger im Kostenvorteil

Daran hat sich auch zehn Jahre später wenig geändert, sagt der Mobilitätsforscher Thomas Sauter-Servaes von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, der die Studie damals durchführte, heute. Bei Bahnreisen steigen die Kosten für die Infrastruktur mit jedem Kilometer fast linear, während bei Flugzeugen vor allem das energieintensive Starten teuer sei, pro zusätzlichen Kilometer aber nur geringe Kosten anfielen.

Das Hochgeschwindigkeitsschienennetz in Europa wächst stetig, doch Nachtzüge nutzen es nur selten. (Symbolbild, es gibt natürlich keine Bahnverbindung unter dem Mittelmeer.)
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Vor allem die Schienengebühren auf Hochgeschwindigkeitsstrecken sind hoch. Kürzlich rechnete Sauter-Servaes mit Studierenden durch, wie viel ein Nachtzug von Zürich nach London kosten würde. Allein die Infrastrukturgebühren beliefen sich auf bis zu 40 Prozent, wobei der Eurotunnel zwischen Frankreich und Großbritannien der entscheidende Kostentreiber sei.

Einen Vorteil habe die Bahn gegenüber dem Flieger jedoch: Man kann sehr lange Züge bilden und so die Kosten drücken. Dafür bräuchte es aber auch dementsprechende Nachfrage. Dass diese zum Teil von selbst kommt, wenn das Angebot besteht, zeigen zwar die neuen Nightjet-Verbindungen der ÖBB. "Aber man braucht wahrscheinlich einen langen Atem, bis das wirtschaftlich läuft", sagt Sauter-Servaes.

Bahn bleibt Fleckerlteppich

Und dann gibt es noch Probleme, die nicht nur Nachtzügen, sondern dem gesamten grenzenlosen Bahnverkehr im Wege stehen: unterschiedliche Stromversorgungen, Sicherheitsstandards, Signalsysteme oder – wie teilweise in Spanien – Schienenbreiten, die internationale Verbindungen kompliziert und teuer machen. Auch wenn die EU an einer Harmonisierung arbeitet: Das Bahnsystem bleibt ein internationaler Fleckerlteppich.

Es liegt also oft an äußeren Umständen, dass der Zug gegenüber dem Flieger nicht konkurrenzfähig ist. Bahnunternehmen fordern deshalb oft ein "Level Playing Field" zwischen Bahn- und Flugverkehr, etwa durch stärkere Besteuerung von Flugtickets. Das sei wichtig, aber damit sei es laut Sauter-Servaes nicht getan. "Die Bahn begibt sich gern in eine Opferrolle", sagt Sauter-Servaes. Nicht nur der Preis oder die Fahrtdauer sei ausschlaggebend. Er verweist auf das veraltete Material, mit dem Nachtverbindungen oft betrieben werden – Geschäftsreisende könne man damit nicht gewinnen.

Neue Nightjet-Wagons

Die neuen Nightjet-Wagons, die derzeit nach und nach ausgerollt werden, seien grundsätzlich für Geschwindigkeiten von bis zu 230 Kilometern pro Stunde ausgelegt, teilt die ÖBB auf STANDARD-Anfrage mit.

Dass sie schon bald von Wien nach London, Madrid oder Süditalien rauschen, ist aber unwahrscheinlich. In Frankreich seien die Schnellfahrstrecken nachts für Wartungsarbeiten etwa prinzipiell geschlossen, anderswo sind auf ihnen langsame Güterzüge unterwegs, die auch Nachtzüge ausbremsen. Nach Streckenausbauten würde man weiter entfernte Destinationen aber in Erwägung ziehen, heißt es von der ÖBB.

Die neuen Nightjet-Wagons sind grundsätzlich für schnelle Geschwindigkeiten ausgelegt.
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Die neuen Abteile der ÖBB lösen aber auch ein weiteres grundsätzliches Problem nicht: Weil sich die Wagons kaum für den Tagesverkehr eignen, verbringen sie einen wesentlichen Teil ihres Lebens auf dem Abstellgleis. "Dort verdienen sie kein Geld", sagt Sauter-Servaes. Für die Passagiere heißt das: höhere Ticketpreise, denn die Herstellungs- und Wartungskosten des Wagons verteilen sich auf weniger Menschen als etwa bei Billigfluglinien. Deren Geheimnis sei es insbesondere, Flugzeuge schnell zu "drehen", also möglichst viele Verbindungen pro Tag zu fliegen.

Eine Arbeitsgruppe beschäftigt sich im Auftrag des Verkehrsministeriums deshalb damit, wie die Nachtzüge der Zukunft aussehen könnten. Dazu lassen sich die Forschenden von Flugzeugen, Kabinen auf Kreuzfahrtschiffen, aber auch Lkw-Schlafkojen und Tiny Houses inspirieren. Das Ziel: herausfinden, wie die Liegewagons vom starren Schlafzimmer zum flexiblen Wohnzimmer werden.

Buchung muss einfacher werden

Möglich wären etwa Schlafsessel in Großraumabteilen, die an die Businessclass von Flugzeugen erinnern, erklärt Projektleiter Bernhard Rüger von der Firma Netwiss. Nachts könnten sie als günstige Alternative zum Schlafabteil verkauft werden, tagsüber wären sie hingegen mehrere Komfortkategorien über den Sitzplätzen der zweiten Klasse.

Die verwandelbaren Sitze könnten laut Rüger auch neue Strecken ermöglichen, etwa Nachtzüge, die bereits nachmittags weit vor der Hauptstrecke starten und vormittags nach dieser enden. So könnten auch Regionen fernab der Hauptstädte direkt verbunden werden – das sei Reisenden laut Studien wichtig. "Das kann das Flugzeug nicht", sagt Rüger.

Der Nachtzug nach London und Barcelona bleibt vorerst ein Traum.
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Damit Nachtzüge auch auf der Mittelstrecke bis 2.000 Kilometer eine Chance haben, müssen die Schnellfahrstrecken nachts geöffnet und die Trassengebühren verringert werden – das sei auch eine politische Entscheidung, sagt Sauter-Servaes.

Was hingegen leichter umsetzbar sei: eine Plattform, die die Zugbuchung so einfach macht wie bei Flügen. "Wir wissen, dass Verkehrsverhalten extrem stabil ist – wenn ich eine gute Lösung gefunden habe, bleibe ich dabei", sagt der Mobilitätsexperte. Viele würden den Zug gar nicht als Alternative zum Flieger sehen. Eine verkehrsträgerübergreifende Buchungsplattform, bei der auch eine Zuganreise mit einem Rückflug kombinierbar wäre, könnte dieses Verhalten durchbrechen – und Flugreisende anfixen. (Philip Pramer, 30.1.2023)