Kohlmeisen sind häufige Gäste in Gärten und an Futterhäuschen. Ob das Angebot an Körnern, Samen und Co ihre Evolution beeinflusst, wird nun wissenschaftlich untersucht.
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Sollten Sie in Innsbruck daheim sein, kann es sein, dass Sie im kommenden Frühjahr an manchen Stellen der Stadt ein feines schwarzes Netz gespannt sehen, mit dem Vögel gefangen werden. Doch keine Sorge: Es handelt sich um ein wissenschaftliches Projekt, die Forschenden sind vor Ort, um die Tiere sofort zu befreien und bald darauf gänzlich wieder freizulassen. Dazwischen liefern die Vögel Daten zu den evolutionären Folgen ihrer Fütterung.

Städte nehmen zusehends Raum ein: Schon heute bedecken sie 17 Prozent der Landfläche Europas, Tendenz steigend. Gleichzeitig versuchen immer mehr Menschen, einen gewissen Kontakt zur Natur zu halten. Eine einfache und beliebte Methode ist das Füttern von Vögeln. In Großbritannien, wo diese Praxis intensiv gepflegt wird, füttern mehr als 60 Prozent der Haushalte regelmäßig, aber auch in vielen anderen Ländern Europas, in Nordamerika, Australien und Neuseeland wird gerne Nahrung angeboten. Die Futterhäuschensaison beschränkt sich dabei heute oft nicht mehr auf den Winter: Immer öfter bringen Menschen auch während der Brutzeit Futter aus.

Anpassung der Schnäbel

Die Annahme liegt nahe, dass die Fütterungen das Leben von Stadtvögeln beeinflussen. So verbringt seit rund 50 Jahren ein Teil der europäischen Mönchsgrasmücken die kalte Jahreszeit auf den Britischen Inseln, wo sie ursprünglich nicht überwinterten. Grund dürfte das hervorragende Nahrungsangebot durch den Menschen sein. Auch körperliche Veränderungen sind zu beobachten: So konnten Studien an amerikanischen Hausgimpeln zeigen, dass Vögel in Städten zu größeren Schnäbeln neigen als auf dem Land.

Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Anpassung an verfütterte Sonnenblumenkerne: Ein breiterer Schnabel bedeutet mehr Beißkraft beim Öffnen harter Schalen. Unklar ist, wie diese Neuerungen zustande kommen: Sie können auf phänotypischer Plastizität beruhen, also nicht-genetischen Anpassungen an Umweltbedingungen im Lauf der Entwicklung, oder aber auf genetischen Veränderungen.

Vorteilhafte Eigenschaften

Es könnte auch sein, dass sich Individuen mit den in der Stadt vorteilhaften Eigenschaften bevorzugt dort aufhalten. Was tatsächlich der Fall ist, wird die französische Biologin Marion Chatelain in ihrem demnächst anlaufenden Elise-Richter-Projekt am Department für Zoologie der Universität Innsbruck untersuchen.

Ihre Studienobjekte sind Kohl- und Blaumeisen, zwei Arten, die zu den häufigsten Besuchern an Österreichs Futterhäuschen gehören. Beide fressen während der Brutzeit vorwiegend Insekten, nehmen aber vor allem im Winter auch Fettfutter zu sich und meißeln erfolgreich harte Samen wie Sonnenblumenkerne auf. Für ihre Untersuchungen wird Chatelain in ganz Innsbruck und Umgebung Vertreter beider Arten fangen, vermessen, beringen und danach wieder freilassen.

Meisen im Japannetz

Der Fang erfolgt mittels feiner Japannetze, die nahe einem Lautsprecher aufgespannt werden, aus dem Meisenrufe ertönen, um die Vögel anzulocken. Bei der Wahl der Fangstandorte geht Chatelain einen bisher noch nicht beschrittenen Weg: Während herkömmliche Arbeiten zur Stadtökologie gewöhnlich Stadtvögel, die meist in Parks gefangen werden, mit Vögeln aus dem bewaldeten Umland vergleichen, legt die Forscherin einen virtuellen Raster über Innsbruck und stellt ihre Netze darauf in Abständen von jeweils einem Kilometer auf.

Das hohe Nahrungsangebot in Städten lockt auch Blaumeisen an. Da es gleichzeitig weniger Fressfeinde im urbanen Raum gibt, haben auch weniger fitte Exemplare gute Überlebenschancen.
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Das ergibt insgesamt 90 Fangstellen. Dieses und nächstes Jahr wird jede davon viermal – je zweimal zur Brutzeit und im Winter – für jeweils zwei Stunden beprobt, denn: "Jede Stadt ist ein Mosaik von Lebensräumen, und so kann ich dieses Mosaik in meinen Untersuchungen abbilden", erklärt Chatelain.

In das neue Projekt werden auch die Daten der 456 Kohl- und Blaumeisen eingehen, die sie mit dieser selbst entwickelten Vorgehensweise in ihrem eben abgeschlossenen Lise-Meitner-Projekt zum nahrungsgetriebenen Migrationsverhalten von Vögeln in der Stadt gefangen hat.

Satelliten und DNA

Genetische Untersuchungen der Meisen sollen zeigen, inwieweit Anpassungen an die jeweiligen Stadthabitate nur äußerlich erfolgen oder bis in die DNA reichen und damit auch vererbt werden. Weiters soll mithilfe von Satellitenbildern die Rolle ermittelt werden, die verschiedene Innsbrucker Landschaftsteile dabei spielen: So stellen stark befahrene Straßen und dicht besiedelte Gebiete häufig Barrieren dar, die den Genfluss zwischen einzelnen Stadtpopulationen behindern.

Andererseits können Plätze, an denen Menschen Nahrung anbieten, als eine Art Magnet wirken, an dem viele Individuen zusammenkommen. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie können Blaumeisen von ihrem Neststandort bis zu 1,4 Kilometer weit wandern, um dorthin zu gelangen. Solche Zusammenkünfte fördern den Genaustausch naturgemäß.

Weniger Nachkommen für Stadtvögel

Gleichzeitig ist bekannt, dass Stadtvögel oft weniger und schwächere Nachkommen haben als ihre Artgenossen im Umland, und die weniger artgerechte Nahrung könnte durchaus dafür verantwortlich sein. Dafür ist sie jedoch in großen Mengen vorhanden, was den Nachteil ausgleichen könnte: Bei hohem Nahrungsangebot – und gewöhnlich geringerem Druck durch Fressfeinde in der Stadt – haben auch weniger fitte Individuen bessere Überlebenschancen.

Viele dieser Zusammenhänge sollen in Chatelains Projekt aufgedeckt werden. Dabei hofft die junge Wissenschafterin auf die Mithilfe der Bevölkerung: So will sie unter Zuhilfenahme eines entsprechenden Fragebogens möglichst viele Futterstellen in und um Innsbruck erfassen. Außerdem hofft die Forscherin, ihre Netze wie schon beim Vorgängerprojekt auch in Privatgärten aufstellen zu dürfen. (Susanne Strnadl, 28.1.2023)