Vitamin D wurde in hohen Dosen Lebensmitteln beigefügt, um Mangelerkrankungen vorzubeugen – jahrelang auch in viel zu hohen Dosen.
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"Gut" ist nicht immer gleichbedeutend mit "gut gemeint". Als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Lebensmittel mit zusätzlichem Vitamin D angereichert wurden, war dies ein großer Schritt bei der Bekämpfung der Rachitis: Diese einst weitverbreitete Mangelerkrankung zeigt sich am sichtbarsten bei Menschen, die seit ihrer frühen Kindheit viel zu wenig Vitamin D aufgenommen haben und deren Beinknochen nach außen gekrümmt sind. Zur Vorbeugung wurde das Vitamin vor allem Milch und Milchpulver zugesetzt. Auch Margarine, Brot, Bier, Limonaden und sogar Hotdogs wurden mit Vitamin D angereichert.

Doch bekanntlich macht die Dosis das Gift. Heute wird in Österreich, Deutschland und der Schweiz eine geschätzte Tageszufuhr von zehn Mikrogramm Vitamin D für das Alter von null bis zwölf Monaten empfohlen – was freilich individuell anders und durch ärztliches Personal angepasst sein kann. Umgerechnet sind das 400 internationale Einheiten (IE). Zur Vorbeugung eines Vitamin-D-Mangels kann die doppelte Menge zugeführt werden, wie der Beipackzettel eines beliebten Medikaments rät. In den 1940er- bis 1960er-Jahren wurde Säuglingen allerdings Einzeldosen von drei bis 15 Milligramm (!) verabreicht. Das entspricht 120.000 bis 600.000 IE, also der 150- bis 750-fachen Menge.

Überdosis und Symptome

Solche gewaltigen Überdosierungen in manchen Fällen verursachten massive Gesundheitsprobleme. Eine sogenannte Hypervitaminose D kann für Nierenschäden und Osteoporose sorgen, im Extremfall führt sie zum Tod. Bei längerfristiger Überdosierung zeigen sich Symptome wie erhöhte Temperatur, Muskel- und Kopfschmerzen, Erbrechen, Bauchkrämpfe und Psychosen.

Wie viele Kinder wie stark betroffen waren, ist sehr schwierig zu beantworten. In der Fachliteratur ist von einer überschaubaren Anzahl an Fällen in den USA die Rede. In Großbritannien wurden "einige" Fälle von Kleinkindern damit in Verbindung gebracht, die Gesichtsanomalien, geistige Störungen, zu viel Kalzium im Blut und Herzprobleme hatten. Von Todesfällen ist meist keine Rede.

Geringere Mengen

Bemerkenswert äußerte sich in diesem Zusammenhang nun ein Molekularbiologe. Darrell Green von der britischen University of East Anglia, der eine thematisch dazupassende Studie veröffentlichte, spricht historische Todesfälle direkt an: "Lebensmittel wie Milchprodukte wurden mit Vitamin D angereichert, was jedoch zu einer Reihe von Todesfällen bei Babys führte", wird der Biologe in einer Aussendung der Universität zitiert.

Einige Kleinkinder hatten in der Folge mit Gesundheitsproblemen zu kämpfen.
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Weltweit ruderten Staaten in der Folge zurück und verbaten die Zugabe von Vitamin D zu Milch. Mitunter wurden geringfügigere Beimischungen später erlaubt. Die dokumentierten Fälle ließen manche Fachleute vermuten, dass diese Kinder an einer seltenen genetischen Krankheit litten oder übersensibel auf Vitamin D reagierten. Green und sein Forschungsteam befasste sich daher genauer mit einer Krankheit, die heute im Englischen als "infantile hypercalcaemia type 1" (kurz HCINF1) bezeichnet wird – eine seltene Form der Hyperkalzämie, die Kinder betrifft.

Kalzium und Nierensteine

Hyperkalzämie sagt vor allem aus, dass sich zu viel Kalzium im Blut befindet. Bei HCINF1 liegt das an einer Genmutation, wie herausgefunden wurde. Sie sorgt dafür, dass Vitamin D nicht richtig verstoffwechselt werden kann – wird ihnen also viel Vitamin D verabreicht, wie es in den 40er- und 50er-Jahren mitunter der Fall war, ist das besonders problematisch.

Das viele Kalzium im Blut, das sich ansammelt, kann zu Nierensteinen und anderen Schäden führen, bei Babys auch zum Tod, sagt Green. "Heutzutage merken manche Menschen erst im Erwachsenenalter, dass sie eine CYP24A1-Mutation haben, nachdem sie jahrelang unter wiederkehrenden Nierensteinen und anderen Problemen gelitten haben."

Kurioser Sonderfall

Überraschenderweise lässt sich diese Genvariante bei zehn Prozent der Betroffenen aber gar nicht feststellen, obwohl sie passende Symptome haben. Die aktuelle Analyse an 47 Patientinnen und Patienten, die im Fachblatt "Frontiers in Endocrinology" veröffentlicht wurde, zeigt: Obwohl sie eine DNA-Sequenz haben, die wie üblich funktionieren sollte, entsteht ein Problem beim mRNA-Molekül. Die Informationsgrundlage zum Bau eines Proteins ist also vorhanden, das Werkzeug ist jedoch gewissermaßen verbogen und kann das Produkt nicht herstellen.

Welcher Leidensdruck für Einzelne dahintersteckt, veranschaulicht die Fallstudie der 34-jährigen Shelley O'Connor, die bei ihrer ersten Schwangerschaft mit 23 Jahren mit HCINF1 diagnostiziert wurde. Ergänzend nahm sie Vitamin D zu sich – und litt an schweren Schmerzen, sodass die Hebammen dachten, sie würde schon im 6. Schwangerschaftsmonat in den Wehen liegen: "Ich hatte wirklich Angst um das Baby, aber bei einer MRT-Untersuchung stellte sich heraus, dass es sich um einen Nierenstein handelte, der durch die Einnahme von Vitamin D als Ergänzungsmittel in der Schwangerschaft verursacht wurde."

Komplexe Physiologie

Die Krankheitsdiagnose erklärte rückwirkend Bauchschmerzen und Blasenentzündungen in ihrer Kindheit. Weiterhin plagen O'Connor immer wieder Nierensteine. Alle sechs Monate muss sie operiert werden, um Kalzium abzubauen, das sonst zu weiteren Nierensteinen führt.

Die Untersuchung liefert nicht nur eine ergänzte mögliche Erklärung dafür, warum manche Babys wohl besonders von einer Hypervitaminose D betroffen waren, als zahlreiche Lebensmittel mit hohen Mengen an Vitamin D versehen wurden. Sie verdeutlicht auch, wie vielschichtig das Zusammenspiel im Inneren unserer Zellen ist, wie verschiedene Probleme beim Zusammenbauen von Eiweißstoffen zu ähnlichen gesundheitlichen Folgen führen und wie komplex individuelle Diagnosen sein können. (sic, 31.1.2023)