Was wäre, wenn Lehre zum Beispiel durchlässiger, digitaler, modularer wäre?
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Albert Einstein definierte Bildung als das, was übrigbleibe, wenn wir das in der Schule Erlernte wieder vergessen haben. Wilhelm von Humboldt sprach von der Selbsthervorhebung, der Fähigkeit, seine Autobiografie selbst zu schreiben.

Was bleibt also nach dieser menschlichen wie maschinellen Intelligenzrevolution für uns Menschen und unsere Bildung eigentlich übrig, und wie schön und sinnlich könnte das werden? Das Handwerk, das Konkrete, das Wirksame, das auch materiell Ästhetische, das Unternehmerische.

Duale Bildung muss – gerade in digitalen Zeiten – umstellen von kanonischen Defizitbewältigungskanonen ("Das haben wir schon immer gehabt und müsst ihr für später können!") auf die Rakete der Potenzialismussteigerung ("Das entwickelt dich und deine Potenziale jetzt – und über dich hinaus!").

Aber sind wir schon so weit? Warum nicht nachdenken, wie wir die Zukunft der dualen Ausbildung vordenken sollten – in der Dualität von Unternehmen und den Lehrlingen auf Augenhöhe. In der Dualität von wirklich praktischer und ernsthaft theoretischer Ausrichtung, von präsenter und digitaler Lehre, von Neugier und alten Ideen der Meisterschaft und neuem Unternehmertum. Gerade jetzt, wo die Digitalisierung doch einiges an Daten, Information, Wissen oder vermeintlich sogar Intelligenz anders bereithält.

Manifest

  1. Werdet durchlässiger! Man muss in die Lehre ohne formalen Abschluss reinkommen, und man muss ohne formalen Abschluss auch rauskönnen. Wir müssen individualisieren in den Inhalten und eben auch den Qualifikationsnachweisen. Wir werden die Ausbildung nonformaler formalisieren.
  2. Werdet gestufter! Duale Hochschulen sind in Deutschland ein Erfolgsmodell, weil sie Studierfähige, aber nicht Studierwillige auf die Reise nehmen kann. Wir brauchen Lehrlingsmodelle für unstillbar Wissensdurstige und Bildungshungrige – und Hunger und Durst kommen ja meist auf der Reise.
  3. Werdet digitaler! Die Digitalisierung in Berufsschulen ist unangemessen. Die Arbeiterkammer hat für Wien in 2022 Unterstützungen zugesagt, aber das ist noch unangemessen wenig. Die duale Ausbildung ist am stärksten von Automatisierungs- und Digitalisierungserfolgen betroffen. Nutzt die Digitalisierung zur kognitiven Versionierung von Inhalten – aus der Sicht der Lehrlinge (und mit ihnen) und nicht aus jener der Lehrenden.
  4. Werdet modularer! Arbeits- und Bildungsbiografien werden weiter inhomogener und somit flexibler, also zeitlich und rhythmisch eben nicht mehr, wie der Lehrplan sich das vorstellt.
  5. Werdet kopräsenter! Junge Menschen, vor allem Jungs mit Schwerpunktfach "Bäume ausreißen", haben das Recht auf Bewegung – sowohl physisch wie auch in gemeinsamen Gedankengängen – und Bindung, denn das ist Bildung auch in prekären Familien und Lebenssituationen. Kopräsent: ohne Stillsitzen und Powerpoint.
  6. Werdet stolzer, selbstständiger und unternehmerischer! Immer wieder gefordert, dass die Lehre "aufgewertet werden muss". Eine Forderung, die sie leider abwertet. Lehrlinge sind auf dem Weg, etwas zu können, (auch nonformale) Meisterschaft zu erlangen, selbstständig zu sein und als Unternehmer sogar auch mehr zu verdienen – also Anerkennung und Euros.

Ausgewählte Lehren aus der Lehrlingsstatistik

  • Wichtigster Abschluss – abnehmend: 33 Prozent der österreichischen Bevölkerung im Erwerbsalter haben einen Lehrabschluss als höchste abgeschlossene Ausbildung – und damit ist dies der häufigste Bildungsgrad. Aber: In den letzten Jahren nahm der Anteil höherer Abschlüsse kontinuierlich zu.
  • Sehr früher Einstieg – zu früh? In Österreich beginnen die Jugendlichen ihre Lehre durchschnittlich bereits im Alter von 16,8 Jahren, was im internationalen Vergleich als sehr früh eingestuft werden kann. In Deutschland zum Beispiel liegt das Eintrittsalter in eine Ausbildung bei 19,7 Jahren.
  • Suche ist für Lehrlinge einfach: Eine Umfrage zur Schwierigkeit der Ausbildungsplatzsuche ergab Erfreuliches: Insgesamt gaben 69 Prozent der Befragten an, die Suche nach ihrem aktuellen Lehrberuf sei einfach gewesen. Nur für neun Prozent war sie schwierig.
  • Abbruchquote niedriger als an Unis – aber zu hoch: Vor Corona hat jeder fünfte Lehrling abgebrochen. Das ist deutlich niedriger als bei Studierenden, vor allem von Universitäten, noch dazu bei technischen Universitäten mit mehr als 50 Prozent. Aber es ist bei Lehrlingen deutlich relevanter, keine Sackgassen zu produzieren.

Fünf Veränderungshebel für die lässige Lehre von morgen

  1. Entritualisierte Rollenkonzepte: Lehrlinge haben mitunter Inselbegabungen, die nicht im Curriculum stehen. Wir wissen von Jacques Rancières zauberhaftem Buch Der unwissende Lehrmeister, welches Potenzial in der Idee steckt, dass man Bildung gemeinsam organisiert, was Karl Jaspers als eigentliche Idee der "Universitas" beschrieb: die Einheit der Rollen von Lehrenden und Lernenden.
  2. Plastischere Erfahrungsräume: Loris Malaguzzi bezeichnete den "Raum als dritten Pädagogen". Aber Berufsschulen sind weniger aufregend, gerade die duale Bildung hat die Chance und Verpflichtung rauszugehen: da wo es brennt, wo Energie ist, wo Natur, wo Kunden sind, wo Technologie entsteht.
  3. Überraschendere Bündnisse: Bildung braucht eine neue Beziehungsfähigkeit zur Gesellschaft. Gesellschaftliche, unternehmerische Herausforderungen – vor Ort. Das, was sich Studierende wünschen, kann hier lässig erfolgen: Service-Learning. Also während des Sichbildens etwas schaffen.
  4. Sinnlichere Organisationen: Wir müssen auch baulich die Bildungsanstalten zu "Anregungsarenen" umbauen. Co-Learning-, CoWorking, Co-Living-Settings, die die Neugier nicht beleidigen und das "Machenwollen" unterstützen. Wir kennen das als "Fab-Labs" und "Impact-Hubs" schon aus dem Innovationsmanagement.
  5. Sinnlichere Formate: Die duale Dramatisierung von digitalem und präsentem Lernen ist eine der Sinneswahrnehmungen: Die Vermittlung von Wissbarem muss digital sinnlicher, also auf diejenigen Sinne abzustellen, mit denen die ja doch oft noch jungen Menschen wahrnehmen. Und die Ermittlungsfähigkeit von Wissen und Nichtwissen muss in Teams kopräsent entwickelt werden.

Klingt das nicht alles schöner und lässiger? Ja, schreibt und liest sich leicht. Aber zum Glück sind Sie ja für die Ermöglichung in den Unternehmen und Ministerien zuständig. Und dann sollte es doch gelingen. Ein letzter Tipp: Fragen Sie mal Ihre Lehrlinge, ob sie nicht mitmachen wollen bei ihrer Neuerfindung der Lehrlingsbildung. Da kommt dann die Essenz gelingender Bildung raus: Staunen können. Versprochen! (Stephan A. Jansen, 3.2.2023)