Kinder und Jugendliche leben im ständigen Krisenmodus. Das kann sehr belastend sein.

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Martin Schenk, Psychologe und Sozialexperte, beschäftigt sich seit Jahren mit Kinderarmut. In seinem aktuellen Buch "Was Kindern jetzt guttut" wird Kindergesundheit in einer Welt im Umbruch diskutiert. Gemeinsam mit der Gesundheitspsychologin und Möwe-Geschäftsführerin Hedwig Wölfl kommen Expertinnen und Experten zu Wort, die täglich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Das Interview ist ein Streifzug durch das Buch.

STANDARD: Corona scheint langsam überstanden zu sein. Für Familien waren Lockdowns und Einschränkungen besonders hart. Doch weiter geht es mit den Krisen: Krieg in der Ukraine, Teuerung, Klima. Wie geht es den Kindern und Jugendlichen in Österreich aktuell?

Schenk: Die meisten Familien haben die Pandemie gut bewältigt. Das ist die gute Nachricht. Es gibt aber eine bestimmte Zahl von Kindern, die weniger Reserven haben, um eine Krise erfolgreich zu meistern. Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Schichten, die unsicher gebunden sind in der Beziehung zu ihren Eltern oder mit Eltern, die psychische Probleme haben. Jene Kinder sind aktuell sehr stark belastet.

STANDARD: Wie äußert sich diese Belastung bei den Kindern?

Schenk: Durch Angst, Depressionen oder Schlafstörungen. Die Zahl der psychisch belasteten Kinder und Jugendlichen steigt immer weiter an. Vor allem für Teenager war Corona eine schwierige Zeit. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Veränderung des Tagesrhythmus, mangelnde soziale Kontakte, zu enges Wohnen. Kleinkinder waren davon nicht so stark betroffen.

STANDARD: Die Schulen haben wieder offen, Corona-Maßnahmen gibt es kaum mehr welche. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind dennoch voll. Was belastet jetzt?

Schenk: In den Beratungsstellen haben wir gemerkt, dass es ein großes Aufatmen gab, als nach zwei Jahren Pandemie langsam wieder Normalität einkehrte, als die Maßnahmen nach und nach erlassen wurden. Nun bleibt die Zahl der Kinder und Jugendlichen hoch, die an Angststörungen, suizidalen Gedanken und Depressionen leiden. Das hängt vor allem mit den weiteren Krisen, wie der Teuerung, zusammen. Wenn Mama und Papa arge finanzielle Sorgen haben, wirkt sich das natürlich unmittelbar auf die Kinder aus.

STANDARD: Welche Rolle spielt die psychische Stabilität der Eltern dabei?

Schenk: Die ist besonders bei kleineren Kindern irrsinnig wichtig. Wenn Eltern Sorgen, Ängste, Stress haben, spüren kleine Kinder das sehr stark. Sie können sich dem auch nicht entziehen, wie es Jugendliche schon leichter können, weil sie viel häufiger im direkten Kontakt zu den Eltern sind. Weil sie ja auch zu hundert Prozent angewiesen sind.

STANDARD: Deswegen sind geöffnete Kindergärten und Schulen wichtig?

Schenk: In der Pandemie haben wir am eigenen Leib erlebt, wie schwer es für ein Familiensystem auszuhalten ist, wenn man permanent aufeinanderhockt. Jetzt kann man sich vorstellen, dass sich die Situation potenziert, sobald die Wohnverhältnisse eng sind und noch Sorgen um den Arbeitsplatz oder das Geld dazukommen. Umso wichtiger ist es, wenn es außerhalb der Familie einen Ort gibt, wo die Kinder Spaß haben können und gefördert werden. Vor allem in Familien mit geringem Einkommen ist jedes Angebot von außen wichtig. Eine gute Nachmittags- oder Ganztagsbetreuung erhöht die Zukunftschance von benachteiligten Kindern massiv. Da darf es nicht passieren, dass Eltern sogar den Kindergartenplatz kündigen, weil sie sich die Beiträge nicht mehr leisten können.

STANDARD: Schule sollte im besten Fall die physische und psychische Gesundheit von Kindern fördern. Tut sie das?

Schenk: Bildung kann in jedem Fall dabei helfen, der sozialen Ungleichheit entgegenzuwirken. Ob sie es tatsächlich tut, hängt aber auch von der Qualität der Schule ab. Deswegen haben wir in der Diakonie den Chancenindex entwickelt. Damit wollen wir Schulen in benachteiligten Bezirken, sogenannte Brennpunktschulen, mit mehr Mitteln ausstatten. Ein Beispiel wäre, dass die Schule nicht zu Mittag schließt, sondern Lernen am Nachmittag möglich ist. Es soll außerdem an solchen Schulen multiprofessionelle Teams aus Sozialarbeitern oder Psychologinnen geben, die zuhören und helfen.

"Kinder, die bedingungslos von ihren Eltern geliebt werden, sind sehr resilient."

STANDARD: In Ihrem aktuellen Buch "Was Kindern jetzt guttut" wurde dem Thema Resilienz ein ganzes Kapitel gewidmet. Welche Bedeutung hat sie für Eltern und Kinder?

Schenk: "Mach dich resilient! Sei resilient! Bemüh dich, resilient zu sein!" Das ist möglicherweise gut gemeint, aber ein Missverständnis. Resilienz ist keine Dimension individueller Leistungsfähigkeit – das belastet die Belasteten noch mehr. Das ist wie jemanden, den die Depression quält, zu sagen "Reiß dich zusammen!". Wir wissen: das drückt die Person noch tiefer in den Strudel der Verzweiflung. Einer der ersten, der sich mit Resilienz beschäftigte, war Aaron Antonovsky. Er betonte, dass Resilienz stets mit gesellschaftlichen Bedingungen verbunden ist. Er nannte sein Konzept "Kohärenzsinn", eine Fähigkeit mit der Welt in Beziehung zu sein. Resilienz ist ein Beziehungsgeschehen. Das stärkt.

STANDARD: Wie können Eltern die Resilienz ihrer Kinder fördern?

Schenk: Das Wichtigste ist, dass Eltern auch bei Konflikten mit den Kindern in Kontakt bleiben. Pubertäre Kinder oder Jugendliche können grauslich sein, ich weiß. Sie können mit Worten und Taten ihre Eltern wirklich verletzen. Doch selbst dann müssen Kinder das Gefühl haben, dass ihre Eltern sie emotional nicht verlassen, dass sie dennoch geliebt werden. Man kann grundsätzlich sagen: Kinder, die bedingungslos von ihren Eltern geliebt werden, sind sehr resilient.

"Was Kindern jetzt guttut. Gesundheit fördern in einer Welt im Umbruch", Martin Schenk, Hedwig Wölfl (Hg.), Ampuls-Verlag
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STANDARD: Schwierig, wenn man als Mama oder Papa selbst belastet ist ...

Schenk: Ja, da hat man keine Kraft mehr dazu. Es ist gut sich selbst Hilfe zu holen, wenn es zu viel wird. Es gibt in Österreich mittlerweile viele niederschwellige, kostenlose und auch anonyme Angebote (Infokasten unten). Es ist nichts dabei, wenn man irgendwo anruft und sagt: "Ich kann nicht mehr, ich bin ratlos." Es geht nämlich vielen Eltern so, man ist ja nicht alleine! Wir wissen, dass Eltern da oft zu lange warten und sich erst dann melden, wenn es eskaliert oder ein Familienmitglied ernsthaft krank wird.

STANDARD: Holen sich Kinder und Jugendliche heutzutage aktiv Hilfe?

Schenk: Aus der Forschung weiß man, dass Kinder in Krisensituationen sich meistens zurückziehen. Kinderzimmertür zuschmeißen und mit niemanden mehr reden, der Klassiker bei Kindern. Die wenigsten suchen sich wirklich Hilfe. Deswegen ist es auch so wichtig, dass Bezugspersonen Signale deuten lernen und aktiv auf die Kinder zugehen und Hilfe anbieten.

STANDARD: Was wären denn konkrete Signale?

Schenk: Hilfesignale müssen Bezugspersonen sehr ernst nehmen, keine Zweifel äußern. Wie gesagt, Kinder und Jugendliche äußern sich dazu nur sehr selten. Ein weiteres Symptom ist das selbstverletzende Verhalten. Wenn das öfter auftritt, sollte dringend psychotherapeutische Hilfe gesucht werden. Schulverweigerung, etwa immer genau am Dienstag, könnte auch ein Hinweis sein. Wichtig ist sicher, das Kind zu beobachten und ihm das Gefühl zu geben: Ich bin da.

STANDARD: Jugendliche stehen vielen Herausforderungen gegenüber. Eine große davon ist der Eintritt in den Arbeitsmarkt. Sind junge Menschen überhaupt noch motiviert für einen Job bei all dem, was wirtschaftlich gerade passiert?

Schenk: Vielen geht es nicht mehr bloß um den Verdienst und die Karriere. Eine Vielzahl junger Menschen versucht stattdessen im Moment zu leben. Sie tun lieber das, was ihnen Freude macht. Weniger Arbeit heißt weniger Geld, dafür mehr Zeit für Hobbys und Freunde. Die Prioritäten haben sich verschoben.

STANDARD: Das muss man sich aber leisten können ...

Schenk: Genau, das trifft auch nur für Jugendliche zu, die den entsprechenden Background haben. Im unterem Einkommensdrittel sind die Zukunftsängste viel stärker. Da gibt es viel weniger Spielraum für berufliche und persönliche Entwicklung. Ein Jugendlicher mit abgeschlossener Gärtnerlehre hat das so beschrieben: "Die Zukunft kommt mir nicht vor wie ein Weg, der mir offensteht, sondern wie eine Mauer, die man überspringen muss."

STANDARD: Da sind wir auch schon bei der Chancenungleichheit. In Österreich ist jedes fünfte Kind armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Ab wann gilt man denn als arm?

Schenk: Es gibt zwei Indikatoren, die zur Bewertung von Armut beitragen: Einkommen und Lebensbedingungen. In Österreich gilt man als armutsgefährdet, wenn man weniger als 60 Prozent des sogenannten Medianeinkommens (mittleres Einkommen) zur Verfügung hat. Die aktuelle Armutsgefährdungsschwelle beträgt 1.371 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt (zwölfmal im Jahr). Der Wert erhöht sich um den Faktor 0,5 pro weitere erwachsene Person im Haushalt und um den Faktor 0,3 pro Kind (unter 14 Jahren) im Haushalt. Man kann aber wenig Einkommen haben und ist dennoch nicht ausgrenzungsgefährdet. Ein Beispiel wären hier Studentinnen und Studenten. Deswegen werden für die Berechnung auch andere Indikatoren berücksichtigt: Sind die Wohnverhältnisse sehr eng? Ist die Wohnung von Schimmel befallen? Kann man eine kaputte Waschmaschine ersetzen? Ist es möglich, die Wohnung warm zu halten? Genau diese Faktoren führen nämlich dazu, dass Personen nicht nur arm sind, sondern auch sozial ausgegrenzt.

STANDARD: Dabei leben wir in einem der reichsten Länder der Welt. War das immer schon so schlimm?

Schenk: In den Jahren ab 2014 ist die Zahl der Kinderarmut in Österreich gesunken. Dies hatte mit der guten Konjunktur und einem stabilem Sozialsystem zu tun. Während der Pandemie sind sehr viele Menschen arbeitslos geworden. Arbeitslosigkeit und die Inflation führen dazu, dass die Zahl der Kinderarmut wieder ansteigt.

STANDARD: Wie äußert sich diese Armut denn gesundheitlich bei den Kindern?

Schenk: Arme Kinder sind bereits im Bauch benachteiligt. Sie weisen bei ihrer Geburt ein geringes Geburtsgewicht auf. Das hängt vor allem mit dem Stress und den Sorgen der Mutter während der Schwangerschaft zusammen. Später sind jene Kinder stärker gefährdet Atemwegserkrankungen zu bekommen, depressive Verstimmungen zu erleiden oder an Einschlafstörungen zu laborieren.

STANDARD: Für Schwangere gibt es das Netzwerk der Frühen Hilfen. Was ist das?

Schenk: Die Frühen Hilfen bieten Familienbegleitung ab der Schwangerschaft. Es handelt sich um ein österreichweites Netzwerk aus Hebammen, Sozialarbeitern, Pädagoginnen oder Ärztinnen, die von Anfang an Ansprechpartner für die Familie sind und diese bis drei Jahre lang begleiten. Das Besondere daran: Sie kommen zur Familie nach Hause, das Ganze ist kostenlos.

STANDARD: Kinderarmut und die daraus resultierende Einsamkeit ist ebenfalls Thema in Ihrem neuen Buch. Inwiefern macht Armut einsam?

Schenk: Da möchte ich ein Beispiel nennen, das man in den Mutter-Kind-Heimen immer wieder beobachtet: Ein Kind aus der Schulklasse hat Geburtstag. Das armutsgefährdete Kind ist auch eingeladen, entwickelt nun aber so einen massiven Stress, weil die Familie sich kein Geschenk leisten kann, das den heutigen Erwartungen entspricht. Am Ende kann es passieren, dass das Kind nicht hingeht, weil die Scham zu groß ist.

Ein anderes Beispiel: Schulausflüge. Die sind teuer und können für Familien eine echte finanzielle Herausforderung werden. Wenn es da keine guten Elternvereine gibt, die das abfangen, fährt das Kind ganz einfach nicht mit. Und daraus resultierend kommt das Thema Mobbing in einem gewissen Alter.

STANDARD: Noch dazu wird alles immer teurer ...

Schenk: (seufzt) Ich mache mir da riesige Sorgen. Zum einen muss man sagen, dass es in den letzten Jahren viele staatliche Unterstützungen gab, die auch das unterste Einkommensdrittel erreicht haben, die auch gewirkt haben. Die Frage ist nun aber, wie es für diese Menschen weitergeht. Wird es wieder Hilfe geben? Ist noch genug Geld da? Wir fürchten uns vor einer weiteren Teuerung, besonders vor den ansteigenden Mieten.

STANDARD: Wie kommen diese Familien überhaupt noch um die Runden?

Schenk: In armen Haushalten gibt es nur drei Posten für Ausgaben: Lebensmittel, Wohnen, Energie. Gespart werden kann nur beim Essen. Häufig ist es so, dass die Eltern zuerst weniger essen – dann die Kinder. Alle Bereiche, die das Leben erst lebenswert und schön machen, fallen sowieso weg. Weil kein Geld übrig bleibt für Gesundheit, Freizeit oder Ausbildung. Das trifft die Kinder natürlich wieder enorm. Deswegen wäre es klug, wenn es zumindest ein warmes Schulessen gäbe. Damit diese Kinder zumindest einmal am Tag eine gemeinsame, kostenlose Mahlzeit bekommen.

STANDARD: Dieses Recht sollten sie haben. Und noch mehr Rechte. Die sind ja auch in der UN-Kinderrechtskonvention festgelegt, die Österreich unterschrieben hat. Wie steht Österreich aktuell da?

Schenk: Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Die Mindestsicherung wurde vor zwei Jahren abgeschafft und durch eine neue Sozialhilfe ersetzt. Das hat für Menschen in untersten Auffangnetz nur Nachteile gebracht. Durch die Abschaffung der Mindestsicherung und die Einführung der schlechten Sozialhilfe in den Ländern kam und kommt es weiterhin zu massiven Verschlechterungen in der Armutsbekämpfung – mitten in all den Teuerungen. Das widerspricht der UN-Kinderrechtskonvention ganz diametral. Es leben in Österreich 70.000 Kinder in einem Haushalt, in dem Sozialhilfe bezogen wird. Wie es denen geht, das nimmt keiner wahr, dafür interessiert sich keiner. Um diese 70.000 Kinder mache ich mir wirklich Sorgen.

STANDARD: Was würde diesen 70.000 Kindern jetzt am meisten helfen?

Schenk: Der Abzug der Wohnbeihilfe und die Kürzungen beim Lebensunterhalt in der Sozialhilfe führen zu massiven Problemen. Die Miete frisst die Unterstützung, die eigentlich für den Lebensunterhalt bestimmt ist, auf. Und das geht sich bei steigenden Lebensmittelkosten einfach nicht mehr aus. Da muss sich was ändern!

STANDARD: Inwiefern würde das die Lebensbedingungen verbessern?

Schenk: Es nimmt die Angst vor dem Wohnungsverlust. Es gibt in all diesen Krisen zumindest ein bisschen Sicherheit.

STANDARD: Was kann jeder einzelne Mensch sofort tun, um Kindern und Jugendlichen zu helfen?

Schenk: Nicht über andere urteilen. Armut hat viele Gründe und viele Gesichter. Es ist wirklich wichtig zu verstehen, dass es dafür eine Menge struktureller und gesellschaftlicher Gründe gibt. Wenn man Kinder und Jugendliche fragt, wie sie aus einer psychischen oder existentiellen Krise rausgekommen sind, erzählen die meisten von einer bestimmten Schlüsselperson. Das kann der Fußballtrainer, die Nachbarin oder der Bibliothekar sein. Menschen, die sich den Kindern annehmen, zuhören und helfen. Die einfach da waren. Wir können vielleicht auch manchmal so eine Person für ein Kind sein. (Nadja Kupsa, 1.2.2023)