PJ Harvey in den 1990ern. Auf "B-Sides, Demos & Rarities" blickt sie auf Nebenstrecken ihrer Karriere zurück.

Foto: Universal Music

Nach einer guten halben Stunde kommt ein Lied mit dem Titel Maniac. Das ist gewissermaßen eine manifeste Behauptung und wurde 1995 als B-Seite der Single C’Mon Billy veröffentlicht. Und: Es erfüllt die Anforderungen für Aufnahme in diese Sammlung – eine Zusammenstellung von B-Seiten, Raritäten und Demos.

Es handelt sich um Songs der PJ Harvey, die in ihrer rund 30 Jahre dauernden Karriere noch keine so umfangreiche Kompilation veröffentlicht hat wie PJ Harvey – B-Sides, Demos & Rarities.

Der Song Maniac ist als zehntes Lied dieser auf sechs Vinylscheiben oder drei CDs ausgelieferten Sammlung so etwas wie ein überflüssiges Geständnis. Denn alle bis dahin zu hörenden Aufnahmen belegen bereits, dass sie das Produkt manischer künstlerischer Arbeit sind.

Die Chronologie von B-Sides, Demos & Rarities ist dergestalt, dass zuerst die zwischen Punk und Blues angesiedelten Arbeiten zu hören sind. Deren skelettierte Wucht beschreibt das Frühwerk der heute 53-jährigen Britin Polly Jean Harvey sehr gut. Sie verschwendete nichts auf Firlefanz, kein Dekor verstellt diese Songs, keine Schöntuerei. Sie klingen wie Exorzismen, nach widerspenstiger Selbstzerfleischung.

Harvey und Cave

So zierlich Harveys Physis sein mag, so brutal konnte sie sich damals mitteilen. Trockene Gitarrenriffs, ein Gesang wie die Anklageschrift in einem Prozess wegen eines Gewaltverbrechens. So wurde Harvey in den frühen 1990ern vom heißen Geheimtipp zum coolen Star – der sich stets weigerte, den banalen Gesetzen der Verwertung zu entsprechen. Bald gelang es ihr, existenzielle Ängste, ihren Weltekel in eine fragilere Form der Schönheit zu überführen. Sie wandelte sich vom Wüterich zur Diva, der die Antidiva wie ein Schatten folgte.

Das ergab eine auffällige Verwandtschaft zur Evolution des Nick Cave. Dass ihre beiden Wege sich in den 1990ern kreuzten, sie Liebende wurden, bevor Harvey dem Junkie Cave nach kurzer Amour fou den Laufpass gab, war nur naheliegend und zeitigte mit Henry Lee ein herrliches Duett.

Dieses Henry Lee ist nicht auf der Sammlung, doch am Ende erinnert Harvey mit einer dem Klavier abgepressten Version von Caves Red Right Hand an die gemeinsame Zeit und die gegenseitige, bis heute anhaltende Wertschätzung.

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Insgesamt 59 Titel zeichnen einen Weg mit vielen Gabelungen nach. Der strenge Expressionismus weicht unterwegs einer gefassteren, dabei um nichts weniger radikaleren Erzählform. Selbst in Arbeiten wie dem vergleichsweise optimistischen New-York-Album Stories From The City, Stories From The Sea ist eine nie ganz verschwindende Schwere auszumachen. Die Stimmungswechsel ihrer Alben setzen sich in den Raritäten fort, sie ergänzen das Bild der Musikerin wie spät hinzugefügte Steinchen ein Mosaik.

"Chirpy Chirpy"

Auf Arbeiten wie Let England Shake (2010) oder The Hope Six Demolition Projekt (2016) gibt sich eine lange schon etablierte Harvey als nüchterne und distanzierte Chronistin eines Wahnsinns zwischen Krieg, Elend und Machtmissbrauch. Doch geht sie nicht den Weg der Protestsänger, der leidenschaftlichen Ankläger. Sie zeigt nur mit dem Finger auf die Dinge, benennt sie in aller Deutlichkeit. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Diese bislang letzte Entwicklung stützen auch die Songs, die es damals nicht auf die Alben geschafft haben.

Möchte man etwas infrage stellen, wären das die paar Instrumentals, die wie Lückenfüller über die Scheiben verteilt sind. Ihr Wert ist bescheiden – selbst Komplettisten würden das bestätigen.

PJ Harvey - Topic

Auffällig ist, wie wenige Fremdkompositionen Harvey je aufgenommen hat. Neben der Cave-Coverversion sind es Songs von Bob Dylan, dem kaum bekannten, längst verstorbenen Rainer Ptacek aus dem Giant-Sand-Universum oder eine Seltsamkeit namens Nina In Ecstasy 2, in das sie den Jukebox-Gassenhauer Chirpy Chirpy, Cheep Cheep von – jetzt heißt es stark sein! – der schottischen Band Middle of the Road einflicht.

PJ Harvey - Topic

Das muss eine Kindheitserinnerung sein und wirkt wie eine Andeutung einer albernen Unbeschwertheit, mit der man Harvey sonst nicht in Zusammenhang bringt. Aber um solche Entdeckungen zu machen, gibt es schließlich solche Ziegel. Und wenn B-Sides, Demos & Rarities schon keine grundlegend neuen Erkenntnisse zu PJ Harveys Werk liefert, die Bestätigung einer herausragenden Künstlerin gelingt allemal. Und ihr Weg setzt sich fort: Heuer soll ein neues Album folgen. (Karl Fluch, 27.1.2023)