Die Illustration zeigt, wie sich Neandertaler in der Höhle beim Schein des Feuers Geschichten erzählt haben könnten – auch über bezwungene Tiere.
Bild: Albert Álvarez Marsal

Wie ähnlich waren uns die Neandertaler? Heute ist nicht nur bekannt, dass beispielsweise Europäerinnen und Europäer bis zu vier Prozent ihrer DNA mit dieser ausgestorbenen Menschenart teilen, die zeitgleich mit dem modernen Homo sapiens lebte. Archäologische Funde lassen auch immer mehr Schlüsse auf ihr Verhalten zu – auch wenn sie nicht leicht zu interpretieren sind.

Dazu liefert eine spanische Höhle nördlich von Madrid neue Erkenntnisse, deren Name ein Wortspiel birgt: Sie wird "Des Cubierta" genannt, was nicht nur den Begriff "cubierta" für "Dach" oder "Abdeckung" beinhaltet, sondern auch das Entdecken und Erkunden: "descubierta". Vor mehr als 55.000 Jahren wurde die Höhle von Neandertalern genutzt, sie ist heute aber nur stellenweise als solche erkennbar, weil zwischenzeitlich die Decke einstürzte.

Die Fundstätte der "Des Cubierta"-Höhle in Spanien.
Foto: Javier Trueba

Schädel von Bisons, Nashörnern und Co

Dennoch können Archäologinnen und Archäologen ausmachen, was dort einst aufbewahrt wurde, wie sie in einer Studie im Fachjournal "Nature Human Behaviour" eindrucksvoll beweisen. Das Forschungsteam, dem auch der Anthropologe Tom Higham von der Universität Wien angehörte, konzentrierte sich auf 35 Schädelteile, die von großen Pflanzenfressern stammen: Hörner und Geweihe von Auerochsen, Steppennashörnern, Rothirschen, Rehen und Steppenbisons wurden entdeckt und analysiert.

Hier wurden die Hörner eines Auerochsen gefunden und sorgsam aus dem Boden präpariert.
Foto: Equipo de Investigación de Pinilla del valle

Dass sie in Verbindung mit Neandertalern stehen, darauf weisen andere Funde eines zum Zeitpunkt des Todes drei bis fünf Jahre alten Neandertalerkindes hin sowie hunderte Steinwerkzeuge im Moustérien-Stil, der mit den ausgestorbenen Menschen in Verbindung gebracht wird. Prähistorische Tierknochenfunde sind an sich nichts Ungewöhnliches, vor allem nicht in Höhlen, die offenbar von unseren Vorfahren und ihren Verwandten genutzt wurden.

Jagdschrein für Großwild

Erstaunlich ist aber, dass die gefundenen Schädelknochen allesamt mit Geweihen oder Hörnern ausgestattet waren. Ganz so, als würde es sich um Jagdtrophäen handeln, wie sie auch von heutiger Sportjagd bekannt sind. Vielleicht erinnerten sie an besonders schwierig zu überwältigende Beute oder dokumentierten die Anzahl erlegten Großwilds. "Dass sie alle auf recht kleinem Raum zusammenlagen, lässt vermuten, dass es sich bei dieser Ansammlung um eine Art Jagdschrein handelte", vermutet das Forschungsteam.

Die besterhaltenen Schädel stammen großteils von Bisons (a–f), aber auch von Auerochsen (g), Steppennashörnern (Stephanorhinus; h, i) und Rothirschen (j, k).
Foto: Javier Trueba / MSF

Einen nährenden Nutzen dürften die Köpfe des Großwilds jedenfalls kaum gehabt haben – im Vergleich zum bescheidenen Fleischgehalt sind sie sehr groß und schwer, sagte Higham, der vor allem für die Interpretation der Datierungen zuständig war, gegenüber der APA. Deshalb sei es eigentlich "sehr ungewöhnlich für Steinzeitjäger, dass sie die Köpfe von großen Tieren wie Nashörnern und Bisons von den Stellen mitbrachten, wo sie die Tiere getötet hatten".

Versierte Fleischhauer

Zerlegt wurden die Tiere an anderer Stelle, berichtet das Team um Erstautor Enrique Baquedano vom Archäologischen und Paläontologischen Museum der Autonomen Gemeinschaft Madrid in Alcalá de Henares. Dafür dürfte jemand mit großer Fleischhauererfahrung verantwortlich gewesen sein, sagt Higham: Unter- und Oberkiefer und weitere Teile des Gesichtsschädels wurden außerhalb der Höhle entfernt sowie das Gehirn, "wohl als Teil der Konservierungsstrategie". Darauf weisen fehlende Knochenfragmente und Schnittspuren an den Knochen hin.

Die Übersichtsgrafik zeigt, dass Tierschädel unterschiedlicher Spezies (erkennbar an den verschieden eingefärbten Funden) im gleichen Höhlenbereich "ausgestellt" wurden – oder sich zumindest nach zigtausenden Jahren an dieser Stelle befanden.
Bild: Baquedano et al. 2023, Autodesk AutoCAD 2021

Kulturelle Tradition?

Dem Forschungsteam zufolge könnte es sich bei der Präparation und Sammlung der Jagdtrophäen um eine "kulturelle Tradition" gehandelt haben, die weitergegeben und "zumindest mehrere Generationen hinweg" aufrechterhalten wurde. Dass solche symbolischen Praktiken auch von Neandertalern durchgeführt und tradiert wurden, mag daran rütteln, dass es sich dabei um ein Alleinstellungsmerkmal des Homo sapiens handelt.

Im Labor wurden die Schädelreste des Großwilds rekonstruiert.
Foto: Javier Trueba

Eine gewisse kulturelle Nähe könnte auch dazu beigetragen haben, dass sich diese beiden "Sorten Mensch" miteinander fortpflanzten, wovon die Neandertalerspuren in heute lebenden Menschen zeugen. Weiterhin ungelöst bleibt das Rätsel, was letztlich dazu führte, dass vor rund 40.000 Jahren dennoch die Neandertaler ausstarben. Immerhin könnte es weniger darum gehen, ob sie wie moderne Menschen Fähigkeiten – wie jene zur Symbolik – hatten oder nicht, sondern in welchem Ausmaß – und wie dies ihre Gesellschaften und ihre Innovationen prägte. (Julia Sica, 26.1.2023)