Für den Wiederaufbau der Ukraine wird die internationale Gemeinschaft Milliardensummen in die Hand nehmen müssen.

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Ein Staat führt einen aggressiven Angriffskrieg gegen ein Nachbarland, löscht dort Menschenleben aus, zerstört Gebäude und Infrastruktur. Gleichzeitig lagern milliardenschwere Vermögenswerte desselben Staates in Bankdepots auf der ganzen Welt. Kann man dieses Geld nicht einfach beschlagnahmen und dem angegriffenen Land bereitstellen? Als Entschädigung für das Leid und als Unterstützung für den Wiederaufbau?

"Aus dem Gerechtigkeitsempfinden heraus wäre das absolut nachvollziehbar", sagt Ralph Janik. "So einfach ist das aber leider nicht." Bei einer Veranstaltung des Jus-Alumni-Clubs der Universität Wien in Kooperation mit dem STANDARD sprach der Völkerrechtler über die juristischen Konsequenzen des Ukraine-Kriegs. Die zentrale Frage der Diskussion: Könnte russisches Vermögen, das im Ausland lagert, beschlagnahmt und an die Ukraine überwiesen werden?

Staatliche Immunität

Die russische Zentralbank bunkert ihr Vermögen verstreut in Banken auf der ganzen Welt. Ein großer Teil davon liegt in den USA und in Europa. Zugriff auf dieses Geld hat Russland nicht mehr. Laut Angaben des US-Finanzministeriums hat der Westen schätzungsweise 285 Milliarden Euro der russischen Zentralbank eingefroren. Rund zwanzig Milliarden sollen in der EU liegen.

Ob das Geld – so wie das viele fordern – an die Ukraine fließen darf, ist unter Fachleuten jedoch strittig. Denn beim Vermögen von Zentralbanken handelt es sich grundsätzlich um sogenannte hoheitliche Mittel, die von der staatlichen Immunität erfasst und damit dem Zugriff anderer Staaten entzogen sind. Das heißt: Selbst wenn der Internationale Gerichtshof (IGH) Russland verurteilen würde oder Schiedsverfahren zugunsten europäischer Staaten ausgehen, ließen sich diese Urteile nach der bisherigen Rechtsauffassung nicht gegen den Willen Russlands durchsetzen.

Eklatanter Rechtsbruch

Künftig könnte sich das jedoch ändern: "Einige Völkerrechtler argumentieren damit, dass bei ganz eklatanten Völkerrechtsbrüchen ein Zugriff trotz Immunität möglich ist", erklärt Janik. "Hier liegt ja eindeutig ein Verstoß gegen das Gewaltverbot vor, eine der zentralen Regeln des Völkerrechts." Als Gegenmaßnahme könnte daher ausnahmsweise hoheitliches Vermögen beschlagnahmt werden, argumentieren Befürworter.

Ob es tatsächlich so weit kommt, ist offen. "Das, was wir gerade erleben, wird ein Präzedenzfall für künftige Rechtslehrbücher", sagt Janik. Letztlich sei die Diskussion eher politischer denn rechtlicher Natur. Fraglich sei nämlich, ob die internationale Gemeinschaft einen derartigen Zugriff auf Staatsvermögen akzeptiert. Schließlich ist Russland nicht das einzige Land, das Gelder in Europa und den USA parkt. Andere Staaten könnten fürchten, dass sie künftig leichter erpressbar sind. "Wenn man das Ass im Ärmel jetzt ausspielt, könnten langfristig Probleme entstehen", sagt Janik.

Freiwillig oder mit Zwang

Dass Staaten nach Kriegen Reparation leisten, kam in der Vergangenheit immer wieder vor – etwa nach den Weltkriegen oder nach dem Überfall des Irak auf Kuwait im Jahr 1990. Grundlage der Zahlungen waren meist völkerrechtliche Verträge, zu denen sich die unterlegenen Kriegsparteien verpflichteten. Es gab aber auch gerichtliche Lösungen: Nach der Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran im Jahr 1979 fror die US-Regierung iranisches Vermögen ein. Für Klagen der beiden Länder und ihrer Staatsangehörigen wurde ein eigenes Schiedsgericht eingerichtet.

Im Fall der Ukraine werden derzeit kreative Lösungen diskutiert, erklärt Janik. So gibt es etwa den Vorschlag, das eingefrorene russische Vermögen nicht direkt für den Wiederaufbau zu verwenden, sondern gewinnbringend anzulegen. Die Erträge könnten in weiterer Folge an die Ukraine fließen. Zumindest denkbar wäre es auch, eine russische Exilregierung anzuerkennen und ihr das eingefrorene Vermögen zu übertragen, so wie das derzeit im Fall Afghanistans gehandhabt wird. "Das ist allerdings extrem heikel und würde von der internationalen Gemeinschaft nicht akzeptiert werden", sagt der Völkerrechtler.

Und die Oligarchen?

Der Westen hat im letzten Jahr nicht nur offizielles russisches Staatsvermögen eingefroren, sondern auch die Gelder unzähliger Oligarchen, die enge Beziehungen zum Kreml pflegen. Kanada hat im Dezember sogar damit begonnen, das Vermögen von Roman Abramowitsch einzuziehen. Im Fall von endgültigen Beschlagnahmungen stellen sich jedoch ebenfalls schwierige rechtliche Fragen.

Oligarchen haben zwar keine Immunität, profitieren als Privatpersonen aber vom hohen Grundrechtsstandard westlicher Staaten, den sie vor Gericht durchsetzen können. Und auch im Völkerrecht gibt es Schranken bei Sanktionen gegen Staatsbürger: Unternehmen, die in Europa investiert haben, könnten auf Basis von Investitionsschutzabkommen Schadenersatz fordern. Die EU-Kommission will Beschlagnahmungen nun zumindest dann ermöglichen, wenn Oligarchen sich selbst strafbar gemacht haben.

Derzeit seien jedenfalls viele rechtliche Fragen offen, sagt Janik, der in Wien, München und Budapest als Universitätslektor arbeitet. "Es ist ein bisschen so, als würde man Studierenden dabei zusehen, wie sie einen kniffligen Fall lösen – aber ohne dass es dafür eine eindeutige Lösung gibt." (Jakob Pflügl, 30.1.2023)