"Oida, da sind schon wieder alte Steine! Gehen wir endlich was essen?", fragt mich ein Freund bei einem Spaziergang durch Roms überfüllte Innenstadt. Dieser Banause! Andererseits ... Wir biegen beim Kolosseum ab, kreuzen den Circus Maximus und begeben uns nach Testaccio, ein traditionelles Arbeiterviertel in der Ewigen Stadt.

In Testaccio herrscht eine andere Atmosphäre als im Centro Storico mit seiner Last der Geschichte. Nonnas beobachten das Treiben auf der Piazza, wo Kinder einem Ball hinterherjagen, und elegante ältere Herren diskutieren. Testaccio ist das kulinarische Zentrum Roms. Trattorias, Pasticcerias und Salumerias (Volpetti, bistdudeppert!) reihen sich in von Alleen gesäumten Straßen aneinander.

Ein Leben reicht nicht in Rom, heißt es. Vor allem nicht, um alles Kulinarische auszuprobieren.
Foto: Christian Eidherr

Scherben und kulinarisches Glück

In der Antike legten in Testaccio Schiffe mit Olivenöl an. Flaschen gab es nicht, Pfand ebenso wenig. Also warf man beschädigte Amphoren auf einen Haufen neben dem Tiber. Daraus entstand über die Jahrhunderte der Monte Testaccio und der Name Viertels ("testa", lat. für Scherbe). Die Gegenwart Testaccios wird durch den mittlerweile geschlossenen Schlachthof definiert, dessen Reste das Herzstück der römischen Küche bilden. Als Quinto Quarto (Fünftes Viertel) werden Innereien und die weniger noblen Stücke eines Tieres bezeichnet. Die edelsten Teile gingen an den Adel und Klerus. Den Arbeitern blieb der Rest. Aus der Not machten sie eine Tugend – und schufen kulinarische Glücksmomente.

Wir sitzen zwischen Schlachthof und Scherbenhügel unter einem prächtigen Kastanienbaum im Schanigarten von Checchino dal 1884. Einst war dies ein Weinkeller, der in den Monte Testaccio gegraben wurde, um die Arbeiter des gegenüberliegenden Schlachthofs zu versorgen. Heute ist es ein gutbürgerliches Wirtshaus im besten Sinne. Die Tische sind mit weißen Tischdecken bespannt, die Teller mit Ornamenten verziert. Der Ober trägt Frack und serviert auf einem Gueridon.

Checchino, ein Lokal im Arbeiterviertel Testaccio.
Foto: Christian Eidherr

Innereien, auf ganz arg

Das Menü eröffnen Carciofi alla romana: Artischocken mariniert in Olivenöl, wilder Minze und Zitrone. Bitter und adstringierend wie ein Negroni, werden die Sinne für den Kanon römischer Pasta geschärft: Amatriciana, Cacio e Pepe, Carbonara und Gricia! Deren wichtigste Elemente sind Guanciale (Wangenspeck), Pecorino und Pfeffer. In Bucatini alla Gricia kommen sie in der puristischsten Form zur Geltung. Aus Kohlehydraten und Fett entsteht ein Glücksmoment.

In den Secondi spielen Innereien die Hauptrolle. Wir verlassen uns auf eine Empfehlung des Kellners und bestellen "Pajata per tutti". Schaut aus wie Würstel, ist aber der Darm eines Milchkalbs, der mit seinem unverdauten Inhalt in einer Tomatensauce gekocht wird. When in Rome, dann Innereien auf ganz arg. Die Konsistenz der Pajata erinnert an Ricotta. Der Geschmack ist leicht lebrig mit einer grasigen Note. Der säuerliche Abgang erinnert an Buttermilch und wird vom herzhaft einreduzierten Tomatensugo konterkariert. Ein rundes, elegantes Gericht! Die Pajata illustriert, dass es auch beim Essen auf die inneren Werte ankommt. Bei Checchino besinnt man sich auf Gerichte, die aus der Armut entstanden und trotzdem reichhaltig sind, die simpel, aber nie banal wirken.

In Tomatensauce gekochter Darm.
Foto: Christian Eidherr

Santa Carbonara!

"Wir kochen saisonal und mit modernen Techniken die Gerichte unserer Nonnas", erklärt Souschef Mattia Bazzuri die Küchenlinie im Santo Palato. Dieses Juwel von einer zeitgenössischen Trattoria versteckt sich in einer unscheinbaren Wohngegend. Das Ambiente ist schlicht, aber gemütlich. Es braucht nur wenige Tische, eine Tafel mit den Gerichten des Tages und geschmackvolles Retrodekor. Nichts wirkt hier überflüssig, der Fokus liegt auf der Schank und der halboffenen Küche.

Das junge Team um Küchenchefin Sarah Cicolini wurde in Sternelokalen ausgebildet und übersetzt die Cucina romana behutsam in die Gegenwart. Ochsenherz wird als Carpaccio mit Olivenöl und Meersalz drapiert. Innereien, so zart und fein wie Thunfisch-Sashimi. Wir bleiben im Quinto Quarto und erhalten als deftige Antithese Polpette di Coda alla Vaccinara: Geschmorter Ochsenschwanz mit dunkler Schokolade wird zu einer tennisballgroßen Kugel geformt, frittiert und auf Pesto aus Erdnüssen und Liebstöckel gebettet.

Roma, non basta una vita

Viele Römer kommen jedoch wegen der Carbonara hierher, die bei Santo Palato perfektioniert wird. Rigatoni werden mit Guanciale, Pecorino und Eiern zu einer sämigen Komposition in sattem Gelbton. Ganz wichtig: "Pro Portion ein Ei und Dotter von freilaufenden Hühnern, die mit Mais gefüttert werden", verrät der Koch.

Römischer Klassiker: Pasta Carbonara.
Foto: Christian Eidherr

Bei den Secondi entfalten sich die Kreativität und die Kunstfertigkeit moderner Spitzengastronomie. Tafelspitz wird kurz von der Flamme geküsst und von einem Rinderfond mit einem Hauch Limette umarmt. Den Kontrast setzen Tomaten und Feigen, die in Majoranöl und Sake mariniert wurden. Als Dessert ist Maritozzo ein Muss, da mag der Magen noch so voll sein: ein Brioche, das mit einer absurden Menge Crème Chantilly gefüllt wird.

Besondere Erwähnung verdient auch die Weinkarte, die auf 73 Seiten (!) ein Best-of von Naturweinen vereint und einen mitgereisten Sommelier zu Übermut verleitet. "Roma, non basta una vita" – ein Leben reicht nicht für Rom, besagt ein Aphorismus. Aber immerhin für einen Abend bei Santo Palato.

Auf ein Fluchtachterl

Wir kehren nach Testaccio zurück und schauen noch auf "ein" Achterl zu Vinificio. Eine angesagte Bar, die auf mehr als 500 Naturweine, kleine Gerichte und DJs setzt.

"Vino vero, cibo funky, sound giusto", lautet das Credo von Vinificio. Die Bar in Testaccio setzt auf kleine, aber durchaus köstliche Gerichte und DJ-Beschallung. Im Publikum mischt sich die junge, hippe Szene Roms mit fünf Wiener Touristen, die sich nach der Sperrstunde in den Gassen der römischen Innenstadt verlieren. Spätnachts und ohne Menschenmassen entfaltet die Ewige Stadt ihre monumentale Schönheit. (Christian Eidherr, 27.1.2023)