Die Darstellung der KZ-Tätowierungen ist zum visuellen Motiv der Filmgeschichte geworden, hier in Atom Egoyans "Remember" (2015).

Foto: Österreichisches Filmmusem

Darf man Bilder des Holocaust zeigen oder nicht? Diese Frage ließ vor rund 20 Jahren die Geschichts- und Medienwissenschaft heißlaufen: Vehement dagegen sprach sich der Regisseur Claude Lanzmann aus, der mit seiner Shoa-Dokumentation 1985 Filmgeschichte schrieb. Darin sieht man lediglich die Orte des Verbrechens, leere Lager, zugewachsene Gleise und die Berichte von Zeitzeugen, aber keine Bilddokumente aus den Vernichtungslagern. Dem zugrunde lag eine klare Haltung: Lanzmann wollte die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht filmisch reproduzieren.

Dokument, Beweis, Protest

Nun haben Bilder des Holocaust allerdings auch den Zweck, zu dokumentieren. Etwa die vier Fotografien, die 1944 in Auschwitz heimlich von Mitgliedern eines jüdischen Sonderkommandos aufgenommen worden waren und die der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman zum Gegenstand seines Buches Bilder trotz allem machte, das zu der Kontroverse mit Lanzmann führte. Darin plädiert Didi-Huberman für das Zeigen der Bilder: als Beweise, etwa in Gerichtsprozessen, als historische Dokumente und schließlich als Protest gegen das Verharmlosen und Vergessen. Die Nationalsozialisten suchten bekanntlich alle Spuren des Holocaust zu vernichten.

Ingo Zechner, Leiter des EU-geförderten Projekts "Visuelle Geschichte des Holocaust: Kuratieren im digitalen Zeitalter" am Ludwig Boltzmann Institute for Digital History, nimmt im Gespräch mit dem Standard Didi-Hubermans Position ein: "Das Projekt geht von dem Faktum aus, dass es Bilder gibt. Wir stellen uns die Fragen: Welche Bilder gibt es? Welche nicht? Wie wurden sie verwendet, und welche Spuren lassen sich zeichnen, wenn man ihrer Geschichte nachgeht?" Die Ergebnisse der vierjährigen Forschungsarbeit werden rund um den heutigen Holocaust-Gedenktag an der TU Wien und im Österreichischen Filmmuseum, die als Projektpartner fungieren, präsentiert. Neben Vorträgen internationaler Forschender sind Spielfilme und Dokumentationen aus dem Korpus zu sehen. In diesem finden sich als Primärmaterial nur visuelle Dokumente, die von den Alliierten aufgenommen wurden. Auf einer Onlineplattform sollen diese nun einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Vom Archiv ins World Wide Web

Vom geschützten Archiv ins World Wide Web? Dass das auch Gefahren mit sich bringt, ist sich Zechner bewusst. Doch er betont den aufklärerischen Impuls und die Tatsache, dass die visuellen Zeugnisse auf der Plattform umfassend kontextualisiert und in Beziehung mit anderen Dokumenten gesetzt wurden: "Das, was im Archiv getrennt ist, kann man im digitalen Raum zusammenführen und miteinander verbinden."

Auch ethische Fragen werden durch das Onlineverfügbarmachen virulent. Zechner verweist hier auf unterschiedliche Bildpolitiken verschiedener Länder: Wohingegen in Archiven und Museen der USA "eine große Offenheit" herrsche, sei man etwa in Großbritannien restriktiver. Aus Rücksicht vor den Opfern, den Überlebenden und deren Angehörigen. In einem "Täter-Land" wie Österreich sei es jedoch den Menschen zumutbar, den Schock der verstörenden Bilder zu erleben.

Still aus dem sowjetischen Beweisfilm "Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov", zu Deutsch: "Die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten" (UdSSR, 1945/46) – zu sehen im Filmmuseum.
Foto: Österreichisches Filmmuseum

Nach dem Krieg wurden solche Filmbilder als Entnazifizierungsmaßnahme eingesetzt, wie Zechner anhand der sogenannten Beweisfilme der Alliierten erläutert. Im deutschsprachigen Raum ist vor allem Die Todesmühlen als Vorfilm im Kino gezeigt worden, bestehend aus Aufnahmen, die auch in der US-Dokumentation Nazi Concentration Camps zu sehen sind. Teil der Filmschau ist indes der weniger bekannte Beweisfilm der Sowjets Kinodokumenty, der anders als sein US-amerikanisches Pendant vorgeht: "Er zeigt keinen anonymen Massenmord in industrialisierter Form, sondern individuelle Täter, die zum Teil aus nächster Nähe morden. Die Opfer haben Namen und trauernde Angehörige. Das Morden findet nicht versteckt hinter Lagerzäunen, sondern vor aller Augen statt."

Neuerliche Brisanz des sowjetischen Beweisfilms?

Kinodokumenty habe laut Zechner während des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine an Brisanz gewonnen, denn "der Kreml beruft sich abstrakt darauf, die Ukraine von Faschisten zu befreien, und schließt damit nahtlos an die Rote Armee an, die das tatsächlich getan hat. Aber die Bilder des Beweisfilms gleichen eher dem, was man von russisch besetzten Territorien der Ukraine sieht. Man könnte also sagen, die Filmbilder strafen die Propaganda des Kremls Lügen."

Die Aufnahmen der Alliierten bilden oftmals den Ausgang für weitere Verwendungen in Filmgeschichte. Zur Ikonografie geworden sind etwa Darstellungen der Tätowierungen von Häftlingsnummern, die beim Eröffnungsfilm Remember des kanadisch-armenischen Regisseurs Atom Egoyan vorkommen. Zwar habe Steven Spielbergs Schindlers Liste in den 1990er-Jahren Filmarbeiten zum Holocaust maßgeblich befeuert, doch es sei den Projektpartnern wichtig gewesen, einen "sehr originellen und zu wenig bekannten" Film zu zeigen, "der, da er auf den ersten Blick revisionistisch wirkt, ein eigenartiges Seherlebnis bietet".

Ob Bilder des Holocaust gezeigt werden sollten, ist längst nicht mehr die Frage. In dem Forschungsprojekt rücken stattdessen die Verwendungszwecke und Verknüpfungen jener Aufnahmen in den Fokus. Das Kuratieren der visuellen Geschichte des Holocaust ist denn auch notwendig in einer digitalen Ära, in der Zeitzeugenberichte abnehmen, analoge Dokumente dem Verfall preisgegeben sind und nationalsozialistische Verbrechen neuerlich als Kriegspropaganda instrumentalisiert werden. (Valerie Dirk, 27.1.2023)