Streicher spielten im Bundesversammlungssaal des Parlaments Stücke von Erich Wolfgang Korngold und Wolfgang Amadeus Mozart.
Foto: Heribert Corn

Alexander Van der Bellen sitzt aufrecht, fast starr auf einem mit Leder bezogene Holzsessel und schaut wie ein strenger, doch gutmütiger Lehrer auf seine Klasse. Gegenüber thronen auf der Regierungsbank aufgefädelt die Ministerinnen und Minister, Kanzler, Vizekanzler. Van der Bellens Augen gleiten von links nach rechts, als würde er jemanden für eine Stoffüberprüfung suchen; er hat sie im Blick. Hinter seinem Rücken erstrecken sich im Halbkreis die Ränge mit den Bänken der Parlamentarier. Und direkt hinter Van der Bellen sitzt – ausgerechnet – FPÖ-Chef Herbert Kickl; ihm quasi im Nacken. So will es die Sitzordnung im Bundesversammlungssaal des Parlaments. Es ist Zufall.

Das Orchester setzt zur Fanfare von Erich Wolfgang Korngold an. Bald soll die Angelobung des neuen, alten Bundespräsidenten über die Bühne gehen. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka erklärt die Bundesversammlung – jenes Gremium, das sich aus Nationalrat und Bundesrat zusammensetzt – für eröffnet. Van der Bellen steht auf, greift sich mit der Rechten ans Herz, verbeugt sich leicht, dreht sich, grüßt. Im Raum befinden sich rund tausend Gäste – alle in feierlicher Stimmung, alle klatschen, fast alle. Ein Grüppchen rund um Kickl sitzt still, niemand verzieht eine Miene.

Antieuropäische Partei "nicht noch befördern"

Die Freiheitlichen mochten Van der Bellen noch nie besonders, sie sehen in ihm einen grünen Professor mit linker Mission – aber an diesem Donnerstag ist der blaue Unmut besonders groß. Mittwochabend, am Tag vor der Angelobung, gab Van der Bellen dem ORF ein Interview, das es in sich hatte: Er würde Kickl, erklärte der oberste Mann im Staat nüchtern, bei einem etwaigen Wahlsieg nicht automatisch den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen. Er wolle "eine antieuropäische Partei, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verurteilt", durch seine Maßnahmen "nicht noch zu befördern versuchen". Im Grunde bedeutet das, dass die FPÖ für ihn als Kanzlerpartei nicht recht infrage kommt.

Der neue, alte Bundespräsident gelobt, "die Verfassung und alle Gesetze der Republik getreulich zu beobachten" – "nach bestem Wissen und Gewissen".
Foto: Heribert Corn

Wie aus anderer Zeit

Van der Bellen sitzt aufrecht auf dem Holzstuhl, die Hände im Schoß übereinandergelegt, den Blick leicht gesenkt. Über ihm schwebt die Kuppel des Saals, Wände und Decke sind goldverziert. Es ist ein Festakt wie aus einer anderen Zeit; eine fast höfisch anmutende Party im Namen der Demokratie. Er gelobt, nun stehend, "die Verfassung und alle Gesetze der Republik getreulich zu beobachten" – "nach bestem Wissen und Gewissen". Sein präsidiales "Gewissen" wird auch später noch eine Rolle spielen.

Van der Bellen tritt ans Pult. An seiner Antrittsrede habe er lange gefeilt, ist aus der Hofburg zu hören. Es sollte nicht irgendeine Ansprache werden, sondern eine richtungsweisende Rede für seine zweite und damit letzte Amtszeit, für die er offenbar ein neues Amts- und Selbstverständnis entwickelt hat. Im ORF-Interview erklärte Van der Bellen, keinesfalls als Feigling in die Geschichtsbücher eingehen zu wollen.

Seine Rede wird laufend durch Applaus unterbrochen. Er spricht über die "Klimakatastrophe" – und darüber, dass die Politik vieles versäumt habe. Er spricht die "Österreicherinnen und Österreicher und alle, die hier leben", auch direkt an: "Wir werden unseren gewohnten Alltag verändern müssen. Denn sonst laufen wir Gefahr, unsere Zukunft abzuschaffen."

Er spricht die Hoffnungslosigkeit an, die viele verspüren würden. Doch es brauche Zuversicht. "Wir kriegen das hin – das sind keine leeren Worte." Denn trotz Pandemie und des russischen Angriffskriegs sei in Österreich die Wirtschaft gewachsen, sei die Arbeitslosenquote gesunken, seien die Gasspeicher voll. "Wir haben es geschafft", sagt Van der Bellen. "Das waren wir alle gemeinsam."

Van der Bellen zwischen Doris Schmidauer, seiner Frau, und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka.
Foto: Heribert Corn

Er steht dabei unbewegt am Mikrofon, seine Hände liegen auf den paar Zetteln Papier, die er mitgenommen hat, auf die er aber nur selten schaut. Er habe sein "Gewissen erforscht", sagt er zum Schluss – wohl auch in Richtung Freiheitliche: "Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union steht nicht zur Debatte." Grund- und Freiheitsrechte, Menschenrechte und Minderheitenrechte seien "unantastbar". Dieser "Grundkonsens unserer Republik" stehe außer Frage – und werde er verletzt, werde er, Van der Bellen, "mit Schärfe darauf reagieren".

Autoritarismus "stoppen"

Denn die dunkelste Zeit "unserer Geschichte", der Nationalsozialismus, dürfe sich niemals wiederholen. "Deshalb müssen wir alles tun, um antidemokratische und autoritäre Tendenzen rechtzeitig und entschlossen zu stoppen", sagt er. Der Applaus nach diesem Satz ist laut und langanhaltend. Nur die meisten Freiheitlichen sitzen regungslos da.

Aber könnte der Bundespräsident Kickl überhaupt die Kanzlerschaft verwehren? "Rechtlich betrachtet ist er in seiner Entscheidung, wen er zum Kanzler macht, völlig frei", sagt der Verfassungsjurist Heinz Mayer. Die Voraussetzungen seien lediglich, dass die Person wahlberechtigt ist und eine österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. "Faktisch braucht eine Regierung aber natürlich eine Mehrheit im Parlament, ansonsten kann der Nationalrat sie jederzeit absetzen", erläutert Mayer. Doch: Grundsätzlich könnte Van der Bellen Kickl als Kanzler verhindern, wenn er möchte.

Die Gäste im historischen Sitzungssaal des Parlaments bejubelten Van der Bellens Ansprache, die FPÖ verweigerte Applaus demonstrativ.

Foto: Heribert Corn

Im Wahlkampf wollte sich Van der Bellen diesbezüglich noch nicht klar festlegen. Im September wich er der Frage nach einer Angelobung Kickls im STANDARD-Interview noch aus: "Das ist eine sehr hypothetische Frage. Denn er steht derzeit für kein Ministeramt zur Wahl. I’ll cross that bridge when I come to it", sagte er damals. Kickl bezeichnet die nun getätigten Aussagen Van der Bellens als "persönliche Willkür".

Am Ende wird Van der Bellen von allen Gästen mit Standing Ovations bedacht – oder: von fast allen. Die Freiheitlichen verlassen den Saal. (Katharina Mittelstaedt, 26.1.2023)