Rauch von einem Waldbrand steigt über dem Amazonas-Regenwald auf.

Foto: IMAGO/Fernando Souza

Die Idee ist simpel: Wer CO2 ausstößt, kann dafür bezahlen, dass dieselbe Menge CO2 an anderer Stelle eingespart wird. Das Geld fließt dann in Projekte, die Wälder schützen, erneuerbare Energiesysteme aufbauen, saubere Kochöfen liefern oder synthetisches Kerosin produzieren.

Marketingabteilungen nutzen das System nun schon seit einigen Jahren, um die Klimabilanzen ihrer Produkte mit dem Label "Klimaneutral" zu versehen – die Emissionen werden durch die Ausgleichszahlung schlicht weggerechnet. Das bringt dem Unternehmen ein besseres Image – und stopft die immer größere Lücke in der Klimafinanzierung. Win-Win, oder?

Das es nicht ganz so einfach ist, zeigen zahlreiche Berichte über den Missbrauch des Systems. Die jüngste Aufdeckung zu einem besonders umstrittenen Bereich des CO2-Ausgleichs veröffentlichten unlängst die Zeit, der Guardian und der Investigativplattform Source Material. Sie recherchierten zu Zertifikaten, die dafür ausgestellt werden, dass Wälder nicht abgeholzt werden.

Kritik an Waldschutzprojekten

Konkret untersuchten die Journalistinnen und Journalisten die Waldschutzprojekte von Verra, einem der führenden Zertifizierungsunternehmen. Zu seinen Kunden zählen Konzerne wie Disney, Shell und Gucci.

Das Ergebnis der Recherche: Über 90 Prozent der CO2-Offsets von Verra, die den Schutz des Regenwalds vorgeben, seien wertlos. So konnten nur wenige Projekte nachweisen, dass sie tatsächlich zur Reduktion von Entwaldung beitrugen. Auch sei die Bedrohung für die von Verra zertifizierten Waldabschnitte um durchschnittlich 400 Prozent übertrieben worden, wie eine Studie der Universität Cambridge ergab.

Diese Prozentzahl wäre sogar um noch einiges höher gewesen, wären da nicht drei Waldprojekte in Madagaskar, die "exzellente" Ergebnisse zeigten, wie der Guardian schreibt – sie drückten die Übertreibung der anderen Projekte nach unten. Für Verra wiegt das schwer: Rund 40 Prozent der Projekte des Unternehmens sind Waldprojekte.

Rossmann verabschiedet sich vom Label "Klimaneutral"

Mit der zunehmenden Kritik an dem Ausgleichssystem sei das Klimaneutral-Label "im Grunde tot", meint der Geschäftsführer der deutschen Drogeriekette Rossmann, Raoul Roßmann, im Interview mit der Zeit. Dort kündigte er an, sein Unternehmen werde das Label "Klimaneutral" auslaufen lassen. "Welcher Kunde nimmt das noch als Mehrwert wahr?", so Roßmann. Das Unternehmen habe ohnehin festgestellt, dass das "Klimaneutral"-Label für die Kaufentscheidung kaum entscheidend sei.

Zu anderen Ergebnissen kommen Umfragen der Nachrichtenplattform Utopia, des Versandkatalogs Otto oder des Unternehmens Climate Partner, das Unternehmen einerseits berät, wie sie ihre CO2-Emissionen berechnen, senken aber auch kompensieren können. "Umfragen zeigen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Kaufentscheidungen durchaus an Klima-Labels orientieren", heißt es seitens Climate Partner.

Die Reaktion aus Österreich auf die Ankündigung Rossmanns fällt gemischt aus: Die Drogeriekette dm, ein Kunde von Climate Partner, antwortet, man habe um Aufklärung gebeten und werde eine Entscheidung fällen, sobald die Prüfungen abgeschlossen seien. Die Supermarktkette Spar antwortet, sie habe das Label noch nie geführt und halte nichts davon, sich freizukaufen. Hofer betont, der Diskonter verfolge den Weg "Vermeidung und Reduktion von Emissionen, vor Kompensation". Unvermeidbare Emissionen würden kompensiert.

Sicher ist: Die Diskussion rund um die Rolle der CO2-Kompensation nimmt gerade erst an Fahrt auf – ebenso wie die Suche nach neuen Möglichkeiten, den rasant wachsenden Kompensationsmarkt zu regulieren.

Zertifikat ist nicht gleich Zertifikat

"Der Skandal zeigt, dass es eine bessere Regulierung braucht", sagt Joachim Thaler von der Universität für Bodenkultur Wien. Diese betreibt mit seiner "Kompetenzstelle für Klimaneutralität" eigene, wissenschaftlich begleitete Kompensationsprojekte weltweit und bietet Beratung für Unternehmen, um Emissionen abzubauen.

"Die Qualität von CO2-Zertifikaten ist sehr unterschiedlich", erklärt Thaler. Es gäbe sehr wohl sinnvolle Projekte, die über Zertifikate finanziert werden. Die Boku betreibt etwa Projekte zur Wasseraufbereitung in Uganda, zur Kompostierung von Abfällen in Äthiopien und zu Wiederbewaldung in Costa Rica. Andere Anbieter, zum Beispiel Atmosfair in Deutschland, investieren Geld, mit dem Flugreisen kompensiert werden sollen, in die Entwicklung synthetischen Kerosins.

Das Prinzip dahinter: Der CO2-Ausgleich soll private Gelder in die immer größer werdende Lücke der Klimafinanzierung lenken – dort sind Beträge nötig, die Staatskassen kaum stemmen können. Schätzungen zufolge werden allein Anstrengungen im Waldschutz bis 2055 über 390 Milliarden Dollar kosten. In anderen Bereichen der Klimafinanzierung wird es noch höhere Summen brauchen.

Heute fließen über den freiwilligen Kompensationsmarkt rund zwei Milliarden Dollar im Jahr. Doch laut dem Beratungsunternehmen McKinsey hat dieser Potential, schon 2030 rund 50 Milliarden Dollar im Jahr in Klimaprojekte zu lenken.

"Die oberste Priorität für jedes Unternehmen muss aber die Reduktion der eigenen Emissionen sein. Ausgleichszahlungen können nur ergänzen", so Thaler. Unternehmen, die sich ernsthaft engagieren wollen, empfiehlt er, sich einen konkreten Klimafahrplan zu geben.

Gesetzlich vorgeschriebener Emissionshandel funktioniert anders

Nicht zu verwechseln sind die freiwilligen Zertifikate mit gesetzlich vorgeschriebenen Emissionshandelssystemen, wie jenem der EU. Dort müssen Industrie- und Energiekonzerne zwar auch Zertifikate kaufen, doch funktioniert das System anders. Die Kompensation erfolgt nicht freiwillig, sondern ist verpflichtet. Für jede ausgestoßene Tonne CO2 müssen die Unternehmen ein Zertifikat besitzen. Diese werden immer knapper und teurer. Das soll Investitionen in die Dekarbonisierung für Konzerne noch ein Stück attraktiver machen. (Alicia Prager, 27.1.2023)