Warf ihren ersten Roman in den Müll: Ana Marwan ist die schärfste Kritikerin ihrer selbst.

Foto: Franco Volpi

Man kommt kaum dazu, Ana Marwan eine Frage zu stellen. Die aktuelle Trägerin des Bachmannpreises fühlt sich auf der Seite der Fragenstellenden wohler, sie war auch einmal Journalistin, erklärt sie. Später nennt sie noch einen anderen Grund, warum sie am liebsten gar nicht über sich selbst sprechen würde: "Ich habe ein Problem mit dem Stellenwert des Autors heutzutage. Es herrscht fast ein Autorenkult. Die Texte? ‚Die muss man nicht lesen, fragen wir halt einfach den Autor‘, lautet das Motto. Dabei werden Autoren total überschätzt! Man fragt sie jetzt immer bei politischen Sachen um Rat. Aber Kunst ist doch ein Symptom dafür, dass man mit der Welt nicht klarkommt. Und dann fragt man ausgerechnet jene, die mit der Welt nicht klarkommen, wie man leben soll?" Gutes Argument. Ich hüte mich also davor, Ana Marwan zu fragen, wie man leben soll. Dennoch soll dieser Text ein Porträt werden, keine Rezension. Ohne Biografisches wird es nicht gehen, das sieht Marwan ein.

Also erzählt sie von Brotjobs als Sportkommentatorin und Callcenter-Mitarbeiterin. Und vom Zeitabsitzen in einem kafkaesken Ministerium, das als Inspiration für ihren nun auf Deutsch erscheinenden zweiten Roman Verpuppt diente.

Unverlässliche Erzählerin

Die Anekdoten aus Marwans Berufsleben klingen schwer erfunden. Zum Beispiel, als sie einmal in einem AMS-Kurs mit jemandem war, der davor als Vorkoster für einen arabischen Scheich gearbeitet haben soll und im scheichfreien Österreich leider keinen seinen Qualifikationen entsprechenden Job fand. Oder als Marwans schriftlich Champions-League-Spiele auf Slowenisch zusammenfassen musste, aber einmal vergessen hat, dass ein Spiel stattfand. In einem Londoner Pub sitzend, wo ihr der Lapsus schnell bewusst wurde, musste sie sich dann den Computer des Pub-Besitzers ausborgen, dessen Tastatur aber nicht über die nötigen diakritischen Zeichen verfügte. Da musste sie kreativ werden, immerhin heißt der verdammte Ball auf Slowenisch "žóga". Im Gesichtsausdruck der Fragestellerin: Zweifel. "Ich lüge nicht", ruft Marwan und grinst dabei so verschmitzt, dass man es erst recht nicht weiß.

Ana Marwan für eine unverlässliche Erzählerin zu halten, wie es auch die Protagonistin aus Verpuppt ist, die viele Züge der Autorin trägt, wäre naheliegend. Hört man Marwan aber länger zu, ergibt sich ein anderes, viel zauberhafteres Bild. Bei Marwan scheint es sich um den seltenen Typ Mensch zu halten, den die metamorphotische Kraft der Literatur von klein auf für Ungewöhnliches empfangsbereit gemacht hat.

"Jeder Siebenjährige hat eine Einstellung zu Putin"

Ungewöhnliches wie vier Widder zum Beispiel. Bevor die Autorin kürzlich aus Wolfsthal in den 14. Bezirk gezogen ist, hat eine Freundin die mythologisch und literaturhistorisch aufgeladenen Tiere in Marwans Garten geparkt. Dort mähten sie, während die 1980 in Murska Sobota geborene Autorin an dem Text Wechselkröte, mit dem sie den Bachmannpreis gewinnen sollte, arbeitete, den Rasen.

Marwan wuchs in Ljubljana auf. Stärker als durch den Kommunismus war ihre Kindheit durch das Lesen und Spielen in der Natur geprägt, ein völlig unbeschwertes Aufwachsen, das erst durch den Zerfall Jugoslawiens Risse bekam. "Ich habe gerade Cartoons geschaut, als die Sirenen geläutet haben und wir in den Keller mussten. Alle waren darauf vorbereitet, ich hatte keine Ahnung, was passiert. Heute ist das unvorstellbar. Kinder bekommen alles mit, jeder Siebenjährige hat eine Einstellung zu Putin."

Weniger Selbstzensur

Nach Wien kam Marwan, die bereits in Slowenien an der Schule und während des Studiums Deutsch gelernt und auch für ihre Diplomarbeit über Kafka und Freud alles im Original gelesen hatte, viel später durch ihren Mann, einen Oberösterreicher. "Ich bin damals davon ausgegangen, dass ich Deutsch kann. Dann kam ich nach Österreich und verstand kein Wort." Nach einem Jahr gewöhnte sie sich an den neuen Dialekt und begann auch bald, auf Deutsch zu schreiben. "Es war befreiender für mich, in einer Fremdsprache zu schreiben, weil ich eine größere emotionale Distanz zu den Worten hatte. Weniger Selbstzensur!"

Vor ihrem – für sie völlig unerwarteten – Gewinn in Klagenfurt war Marwan keine bekannte Autorin. Zwar hatte sie bereits 2008 einen der Exil-Literaturpreise für ihren Text Deutsch nicht ohne Mühe gewonnen, ihren ersten Roman, den sie im Alter von 30 Jahren fertiggestellt hatte, warf sie aber in den Müll. "War nicht gut", sagt Marwan lapidar. So charmant wie Marwan im Gespräch ist, so kritisch ist sie gegenüber ihrem eigenen Schaffen: "Ich dachte sehr lange, dass der Anspruch an meine Literatur sein muss, etwas völlig Neues zu schaffen, was auch bedeutet, alles zu kennen. Ich bewundere junge Menschen, die früher begriffen haben, dass eine schöne Variation auch reicht, die vielleicht Mitte 20 ein Opus haben. Ich hätte das so früh nicht gekonnt. Ich musste länger leben, Erfahrungen machen."

Studium erschwerte den eigenen Weg

Vermutlich war auch das Literaturwissenschaftstudium, das Marwan in Ljubljana absolvierte, für ihr eigenes Schreiben nicht zuträglich. Geplagt von Fragen über den "richtigen" Stil und durch die Lektüre Prousts, der französischen Existenzialisten, Virginia Woolfs und Becketts war es schwer für sie, den eigenen Weg zu finden: "Wenn man so viel reflektiert, kann man nicht authentisch sein." 2014 hängte sie ihre Brotjobs an den Nagel. "Ich konnte nicht mehr ‚Etwas Schrägstrich Schriftstellerin‘ sein, weil man sich immer damit identifiziert, was man fürs Geld macht."

Ihr erster offizieller Roman, Der Kreis des Weberknechts, erschien 2019 im Otto-Müller-Verlag, da war Marwan bereits 38 Jahre alt, was in einem Literaturbetrieb, der aktuell stark nach sehr jungen Autorinnen und Autoren lechzt, keine einfache Ausgangsposition ist. Für Zabubljena (erschienen 2021 bei Beletrina) erhielt Marwan den slowenischen Kritikerpreis. Das Buch erscheint nun in Klaus Detlef Olofs Übersetzung auf Deutsch als Verpuppt.

Ana Marwan, "Verpuppt".Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. € 24,– / 220 Seiten. Otto-Müller-Verlag, Salzburg 2022
Otto Müller Verlag

Sehnsucht nach der Stille

Beide Romane wie auch der Bachmannpreis-Gewinnertext sind Variationen über das Thema Einsamkeit, "wenn auch immer in einer anderen Form. Im ersten Buch war es eine frei gewählte: Misanthrop will die Menschheit verlassen. Im zweiten Buch, ist es genau umgekehrt. Die Protagonistin will nicht einsam sein, bekommt aber charakterbedingt die Kontaktsuche nicht hin. In Wechselkröte ist die Einsamkeit eher pandemiebedingt. Mir ist das aber auch erst durch die Außenwahrnehmung bewusst geworden, dass das mein Thema ist", sagt Marwan.

Es wäre aber falsch, Marwan auf die Einsamkeit zu reduzieren. Vielleicht ist es überhaupt falsch, sie auf Themen zu reduzieren, wo es in ihrer Literatur viel stärker um Bilder, Atmosphären, Sprache und Stil zu gehen scheint, als um den eigentlichen Plot. Schon allein das ein Zeichen, dass Marwans Schreiben nicht dem Zeitgeist entspricht. Es ist Literatur, die nicht nur gelesen, sondern gespürt werden möchte, in der mit Präzision an Rätselhaftigkeit gearbeitet wird. Kurz: ungewöhnliche Literatur.

Seit Marwans Gewinn des prestigeträchtigen Preises ist es mit der Einsamkeit für sie sowieso vorbei. Mit Österreich als Gastland bei der Leipziger Buchmesse und Slowenien als Gastland bei der Frankfurter Buchmesse steht sie gerade hoch im Kurs. Weiters hat sie gerade die Chefredaktion der Zeitschrift Literatur und Kritik übernommen, die auch im Otto-Müller-Verlag erscheint. "Jetzt kann ich mich nicht mehr über Einsamkeit beschweren, ich sehne mich nach einer stillen Stunde", sagt sie. (Amira Ben Saoud, 29.1.2023)