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Schach geht durch die Decke. Auf chess.com sind 100 Millionen Mitglieder angemeldet.

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Star der Onlineszene: US-Großmeister Hikaru Nakamura.

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Die vergangenen Tage waren für Schachjunkies alles andere als einfach. Immer wieder gerieten die Server der größten Schachplattform chess.com ins Straucheln. Fehlermeldung 502 statt Eröffnungszug e2–e4. "Ehrlich gesagt ist das alles ein riesengroßer Mist", schreiben die Betreiber in einer öffentlichen Stellungnahme, "es gab noch nie eine aufregendere Zeit für Schachfans, deshalb ist es so frustrierend, ständig Serviceausfälle zu haben." Bisher waren die Spieler einen reibungslosen Ablauf ihrer Partien gewohnt. Wer den Gegner im Eck hat, will nicht von Verbindungsproblemen gestört werden. Also was ist da los?

Nun, die Serverprobleme kommen nicht von ungefähr. Seit Anfang Dezember hat sich der Traffic auf chess.com laut eigener Aussage fast verdoppelt. Ende Dezember wurden 100 Millionen Mitglieder vermeldet, an einem einzigen Tag haben sich über 300.000 neue Mitglieder registriert. Am 20. Jänner wurden 31.700.000 Partien gespielt – ebenfalls ein Rekord.

Schach boomt, Schach geht durch die Decke. In Österreich ist die App aktuell Marktführer unter den kostenlosen Spielen. Dieses jahrhundertealte Game erobert die Smartphones. Teenager, die eben noch in "Fortnite" mit der Shotgun ihre Gegner terminiert haben, diskutieren plötzlich die sizilianische Verteidigung.

Suche nach Ursachen

"Über 40 Prozent der erfassten Altersgruppen, die uns im letzten Monat zum ersten Mal besuchten, waren zwischen 18 und 24 Jahre alt. Das ist fast doppelt so viel wie die nächstgrößte erfasste Altersgruppe", sagt Nate Baker, Analyst bei chess.com auf Anfrage des STANDARD. Zudem wurden laut Baker im Jänner über 100.000 neue Kinderkonten auf chesskid.com eingerichtet. Was hat diesen Hype ausgelöst? Warum ist es jetzt cooler, den Gegner mattzusetzen, als ihm das Licht auszublasen? Die Betreiber von chess.com stehen selbst vor einem Rätsel: "Um ehrlich zu sein, wissen wir es nicht genau."

In den vergangenen Jahren seien die Gründe für den Aufwärtstrend auf der Hand gelegen. Die Netflix-Serie "The Queen's Gambit" habe die Menschen ebenso vor das Schachbrett getrieben wie die Pandemie. Mit dem Ende der Lockdowns wird die Sache komplizierter: "Wir gehen von einer Kombination aus kleineren Dingen aus, die sich zu einer großen Welle vereinen." Chess.com nennt unter anderem drei mögliche Faktoren: die Verbreitung des Sports durch reichweitenstarke Streamer, die Betrugsvorwürfe von Weltmeister Magnus Carlsen gegen Hans Niemann und ein gemeinsames Werbefoto der Fußballikonen Lionel Messi und Cristiano Ronaldo beim Schachspielen.

Zeitgemäße Aufmachung

Was auch immer den Ausschlag gegeben hat, der Schachsport ist längst in der Gegenwart angekommen. Er ist schnell, er ist online, er ist interaktiv. Während am Brett nach wie vor das klassische Schach die höchste Anerkennung genießt, dominieren im Internet Bullet-, Blitz- und Schnellschach. In der Spielform Blitz verfügen die Kontrahenten jeweils über fünf Minuten Bedenkzeit pro Spieler und Partie. Beim Bullet ist es nur eine Minute. Man sollte also keine allzu lange Leitung haben. Wer denkt, verliert. Es geht um Reflexe. Und um Fertigkeit im Umgang mit dem Touchscreen oder der Computermaus.

Hikaru Nakamura verbindet die Streaming-Szene mit der Schach-Elite.
GMHikaru

Eine Koryphäe in Sachen Blitz und Bullet ist Großmeister Hikaru Nakamura. Der US-Amerikaner ist der Star der Szene, in der Blitz-Weltrangliste steht er vor Carlsen. 1,6 Millionen Menschen folgen dem 35-Jährigen auf der Streamingplattform Twitch. Nakamura spricht mit seinen Fans und trägt geschmacklose Hawaiihemden. Er ist keiner der Nerds jenseits der 2.700 Elo-Punkte. Nein, er ist einer von uns. "Nakamura schlägt die Brücke zwischen den Streamern und dem Topschach", sagt der österreichische Großmeister Markus Ragger zum STANDARD, "für den Sport ist er Gold wert."

Weltmeisterschaft in Österreich?

Werden die flotten Varianten dem klassischen Schach also endgültig den Rang ablaufen? "Das ist denkbar", sagt Ragger, "wenn ich den Sport nur als Hobby betreiben würde, wäre mir Blitzschach auch lieber. Man hat nicht unendlich Freizeit." Das Spiel lasse sich allerdings nur in der klassischen Form vertiefen. Ragger zitiert ein indisches Sprichwort: "Das Schachspiel ist ein See, in dem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann." In anderen Worten: Man lernt es schnell, wird es aber nie ganz ergründen. Wenn man meint, das Schachspiel verstanden zu haben, fangen die Probleme erst an.

Der Österreichische Schachbund (ÖSB) bemüht sich mitten in diesem grassierenden Boom um die Austragung der Blitz- und Schnell-Weltmeisterschaft 2024. Präsident Michael Stöttinger traf sich im Jänner zu Gesprächen mit Weltverbandschef Arkadi Dworkowitsch. Österreich sei ein perfekter Ort für eine WM zum 100-Jahr-Jubiläum des Weltverbandes Fide, so der Russe in einer Aussendung des ÖSB. Schließlich stamme der erste Weltmeister Wilhelm Steinitz – der ihm gewidmete Steinitzsteg verbindet die Wiener Bezirke Brigittenau und Floridsdorf! – aus Österreich. Schachsport ist coming home oder so. (Philip Bauer, 27.1.2023)